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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,2.1902

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Heft 19 (1. Juliheft 1902)
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Schoenaich, Gustav: Zur Erneuerung Bachs
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Lehmann, Alfred: Das Wesen der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.8191#0332

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eine strenge Scheidung des dramatischen vom Konzert-Sänger gedrungen
worden. Zur Zeit Mozarts wäre einc solche Trennung von Niemanden
verlangt worden. Zur Zeit Richard Wagners ist sie ebensowenig ge-
boten. Beide vertreten die dramatische Wahrheit. Sie wird dem strengsten
Kirchengesang nicht gefährlich. Nur wenn das Theatralische — das ist
die Lüge — die Bühne beherrscht, hat sich der große Gesangstil vor ihr
zu hüten. Der echte Oratoriengesang wird dem Sänger Größe und
Vornehmheit lehren, sein dramatischer Beruf ihn beim Vortrag kirchlicher
Stücke des Ausdrucks nicht vergessen lassen. Die Langweile ist kein
unentbehrliches Attribnt des Oratoriengesanges.

Gustav 5choenaich.

vas Mesen cier Runsl.*

Bücher, nicht Bücherbesprcchungen solle man lesen! Vor Jahr-
hunderten mag dieser Satz ohne Einschränkung gegolten haben, heut ist
er, schlechthin gesagt, eine Phrase. Bevor man sich zu dem Studium
eines dickleibigen Werkes entschließt, will man wissen, was einen cr-
wartet. Zum Gipfel eines Berges ringt man sich nicht mühsam empor,
wenn die Fernsicht nicht lohnt. Man befragt den, der oben war:
Baedeker oder seinen literarischen Berater.

Konrad Langes zweibändiges Werk von 800 Seiten ist eine mo-
derne, volkstümliche zugleich und wissenschaftliche Lehre vom Wesen der
Kunst, und dies sind seine Leitsätze:

Jener geheimnisvolle Naturtrieb, der alles, was Leben hat, von
Urbeginn erfüllt: das Menschengeschlecht zu erhalten und seinen ethischen
Wert zu steigern, bestimmt auch die Entwickelung der Kunst. Nach
ewigen Gesetzen schaffen ihre Meister, auch die Genies unter ihnen, und
predigen ihre großen Propheten, — nicht nach Willkür, Laune oder
Zufall. Die Wesensverwandtschaft aller Künste ist in der Wirkung zu
erkeunen, die sie ausüben, das ist in der Aehnlichkeit des psychischen
Vorgangs, der sich in der Seele dessen vollzieht, der ihre Schöpsungen
genießt. Der Kern dieses Vorgangs ist immer derselbe: eine künstlerische
Jllusion, d. i. eine Vorspiegelung von etwas Wirklichem, Beweglichem,
Lebendigem, über deren Natur als eines ästhetischen Spiels der Ge-
nießende nicht im Zweifel ist, da er die Mittel, mit denen sie erreicht
wird, vor Augen hat. 'Eine bewuhte Selbsttäuschung nennt sie Lange,
oder, wenn man wolle, eine durchschaute Verwechselung. Bilder und
Statuen erzeugen vornehmlich eine Anschauungsillusion, die Werke der
Architektur, der dekorativen Kunst und der Tanz eine Kraft- und Be-
wegungsillusion, Dichtkunst und Musik eine Gefühls- oder Stimmungs-
illusion, — vornehmlich, denn sehr oft oder meist bewirkt das einzelne
Kunstwerk mehrere dieser Jllusionsarten zu gleicher Zeit. Daß künstlerische
„Einbildungen" überhaupt zustande kommen, dasür sorgen die illusion-
erregenden Momente, deren Stärke und Lebendigkeit die Qualität des
Kunstwerkes bestimmt, nicht minder aber auch die illusionstörenden.
Wären diese letzteren nicht vorhanden, so könnte eine wirkliche Täuschung
entstehen, der Schein die Wirklichkeit erreichen, und somit würde im sinn-

* Grundzüge einer realistischen Kunstlehre von Konrad Lange. 2 Bände.
Berlin tyo^. Groteschc Verlagsbuchhandlung.

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