Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,2.1902

DOI Heft:
Heft 17 (1. Juniheft 1902)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: "Hab ich Talent?"
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8191#0213

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
,Z. Iakrg.

Srsles Iunike?1 ,902.

ick

Wer eine Zeitung, wer gar eine Zeitschrift herausgibt, in dem die
Literatur eine Rolle spielt, der kennt die dicken Briefe genau, die auch
diese Zeilen angeregt haben. Manuskripte mit Begleitschreiben sind darin,
und dic Frage, die gestelli wird, heißt: ^Hab' ich Talent?" Daß in
deutschen Landen außerordentlich viel gedichtet wird, daß also solche
Briefe zu Hauf eingehen, daß demnach der betreffende Redakteur sie
alle gewissenhaft gar nicht erledigen kann, wenn er überhaupt noch
sonst ctwas machen will, darüber sind sich die Einsender zumeist ja klar.
Und so haben fast alle Begleitschreiben zweierlei Gemeinsames. Sie
sagen erstens: „wie könnten Sie all das lesen, was Jhnen sicherlich ge-
schickt wird" und sagen zweitens: „aber in meinem Fall liegt eine
Ausnahme vor." Erst bei der Begründung, warum denn die Aus-
nahme vorliegt, bcginnt die Verschiedenheit.

Das ist komisch, und ai: unfreiwilliger Komik sind ja überhaupt
diese Sendungen reich, trotzdem aber wäre es grundfalsch, über einen
wie über den andcrn nur zu lächeln. Neben dem Gecken und, mit Ver-
laub zu sagen, der Gans, dcren Eitelkeit nach dem Lorbeer schmachtet,
kommt auch der bescheidene Lehrer, der jahrzehntelang still Verwahrtes
nach Kämpfen mit sich selbst nun doch zeigt, weil er über sich ins klare
kommen will, oder der Vater, der fragt, ob die Familie auf diese Probe
hin ihrem Jungen eine höhere Ausbildung zusammensparen soll, oder
die Frau, die wissen möchte, ob ihr Talent zu ehrlichem Lebensunter-
halt ausreicht. Auch sind ja, was gesandt wird, keineswegs bloß fade
Reimereien: mitunter blitzt nach zwanzig Nachbildern lebensvoll eine
eigene Anschauung auf, tönt nach zwanzig Nachklängen anmutend ein
eigenes Gefühl, blickt aus verschleiertem Auge ein echtes eigenes Menschen-
gesicht — und man darf sagen: die Fälle, in denen auch der Kundigste
die Talentfrage frischweg verneinen könnte, bilden unter allen gar nicht
die Mehrzahl. Wie aber die Sachen auch liegen mögen: das Eingehen

Runstwart

I. Iuniheft 1902

185
 
Annotationen