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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,2.1902

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Heft 17 (1. Juniheft 1902)
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Avenarius, Ferdinand: "Hab ich Talent?"
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https://doi.org/10.11588/diglit.8191#0214

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auf solche Zuschriften ist undankbar für beide Teile. Und alle, die Ge-
dichte, Erzählungen, Dramen bekannten Schriftstellern oder Redakteuren
zur Prüfung einsenden, möchten wir zu einer kurzen Betrachtung darüber
einladen, weshalb guter Rat auf diesem Markte fo teuer ist.

Zunächst: wer ist hier ein Kundiger? Theodor Storm meinte be-
kanntlich, es gäbe wirkliche Kritiker so selten wie wirkliche Dichter, als
wirkliche Dichter ließ er unter den mitlebenden aller Dichtungsarten
höchstens ein halbes Dutzcnd gelten, als „gcborene" Lyriker davon zwei
bis drei, aber für Lyrik, meint' er auch, sei die kritische Befähigung so
besonders selten, daß man ein festes Zutrauen in dieser Beziehung zu
keinem einzigen lebenden Rezensenten haben könne. Das scheint grantig
gesagt, aber der Satz übertreibt gewiß nicht: Poesie schon beim ersten
Kennenlernen sicher zu bewerten, ist eine der allerseltensten Fähigkeiten.
Weiß ich aus deutlicher Erfahrung, daß sie mir selber fehlt, so tröstet's
mich, daß ich auch unter unsern feinsinnigsten Literaturkritikern keinen
weiß, der nicht zugeben müßte, daß sein Urteil über ein Talent da und
dort geirrt hätte. Einer, den als Kritiker heut jeder Gebildete mit
Achtung nennt, hat noch bei Gottfried Kellers Tode von dessen Poesie
geringschützig als von Philisterei gesprochen, obgleich er schon damals
kein Knabe mehr war. Und Keller starb doch damals schon,
starb als Greis, wie lang' aber irren sich selbst wirkliche kritische
Talente erst den Jüngeren gegcnüber? Schriftsteller wie Liliencron,
Hauptmann und Dehmel haben noch vor zwei, drei Jahren als „klad-
deradatschreif"' gegolten, und doch waren die Trojan u.s. w., die sie ver-
spotteten, ihrerseits weder Hohlköpfe noch auch nur literarisch kritiklose
Männer, sie waren nur auf die Eigentümlichkeit jener Jüngeren nicht
eingestellt. Bei der Gegenpartei wieder: wie maßlos sind „jene andern"
anderseits überschätzt worden! Wie viele Dichter haben wir als Messias
begrüßen hören, die dann still vom Throne zum Fußboden sticgen, ja
vielleicht aus dem Festsaal verwieseu wurden! Stets sind es Jahrzehnte,
oft sind es halbe Jahrhunderte, bis auch die ernste Kritik den Erschei-
nungen gegenüber die Stelle findet, auf der sie sich bis auf weiteres
hält. Wir sprechen heut nicht von dem Wert der Kritik in der Geisteskultur
einer Zeit überhaupt, also auch nicht davon, weshalb sie trotz dem und
alle dem ein sehr wertvolles Glied im Ganzen ist. Wir sprechen von
der Zuverlässigkeit eines einzelnen Urteils für einen Einzelnen. Wir
sprechen davon, ob es Sinn hat, ein paar Dutzend, ein paar hundert
Männcr im Neich einer maßgebenden .Kritik für fähig zu halten, weil
sie Professoren der Literaturgeschichte oder Redakteure von Literaturblättern
sind. Denn sozusagen bloß „Spaßes" halber darf man sie doch wohl
nicht bemühen. Da man aber das grüudliche^ Sich-versenken in um-
fangreiche Handschriften einem beschäftigten Manne doch auch nicht zu-
muten mag, meint und schreibt man sogar, „ein paar Blicke" auf ein
paar Blätter „dürften wohl genügen"! ....

Meist ist dem Einsender all das Gesagte nichts Neues. Aber be-
wußt oder tief im dunkeln Herzkämmerlein verschlosscn trägt er dcn
Wunsch nach Ermutigung. Man könnte sagen: dann hat er's ja
gut: tönt ihm ein Ja zurück, so ist er zufrieden, hört er ein Nein, so
denkt er: der Mann war der rechte nicht und wendet sich an einen
andern. Wo wird geschriebcn, was nirgend seinen Lober fände?

Runstwart

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