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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,2.1902

DOI Heft:
Heft 20 (2. Juliheft 1902)
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Avenarius, Ferdinand: Gutes Deutsch
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https://doi.org/10.11588/diglit.8191#0369

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noch unser Gemüt soll durch jene praktische Frage irgend berührt werden
sie wendet sich nur an unsern Verstand. Begrisfliche Sprache dient um
so besser ihrem Zweck, je weniger sie etwas mitsprechen oder anklingen
läßt, was zu den Begriffen nicht gchört, je sachlicher, je nüchterner sie
ist. Jm Kindheitsaltcr der Menschheit gab es dergleichen nicht. Selbst
eine Abstraktion, trägt auch die begrisfliche Sprache, soweit sie sich nicht
mathematischer Formeln bedienen kann, die Spuren des Urzustandes zwar
noch an sich, in dem der Geist alles vermenschlichte, alles belcbte, —
aber diese Münzen sind abgeschliffen. Vergleichen wir mit den Lettern
der Schrift. Die waren ja selbst ursprünglich hieroglyphenartige Bilder.
Mit den Jahrhunderten wurden sie dann zu vereinbarten Zeichen, und
nun erinnern sie an keinen Gegenstand der Natur mchr, sondern nur
noch an Laute. Ganz ähnlich ist in jenem Satze das »gesetzt," das
.feste Stehen/ das ^Lohnen," das .Kämpfen" dcs ursprünglichcn an-
schaulichen Charakters allmählich entkleidet worden, und nunmehr sind
auch diese Wörter nur konvcntionclle Zeichcn für Begriffe: was die Lcttern
in der Schrift, sind sie in der Sprache. Und es ist gut so, dcnn darauf
beruht nicht zum wenigsten der Fortschritt der Kultur, daß wir zu son-
dern, daß wir Begriffliches vom Konkreten, daß wir mit dem Ver-
standc Abgezogcnes von dem Körperhaften zu unterscheiden lernen.

Nur, daß dieses Unterscheiden ja nicht zum Ausgeben dessen
führe, was wir bci begrifflichem Deuken zurückstellen l Wie der leibliche
ist der geistige Organismus ein Ganzes. Wir thun sehr wohl daran,
seine Glieder auch für sich zu üben, lassen wir aber andre dabei ent-
arten, so werden wir trotzdem zu Krüppeln. Geistige Krüppel sind,
die nur bcgrifflich zu denken vermögen. Und wir können nicht sagen:
geistige Krüppel sind auch die andern, die im Gegenteile nichts abstraktes, ich
meine: die nichts anders zu erfasscn vermögen, als durch ihre Phantasie.
Denn das sind nur, sozusagen, Naturmenschen. Man könnte sagen: die
nur „konkrcten" siird dic Kinder, dic nur „abstrakten" sind die Grcise der
Kultur. Der Mensch im Alter der Vollkraft aber kann beides. Er kann
kühl nnd sachlich cincr Gedankenreihe solgen, abcr cr kann sich auch mit
seinem ganzen Menschentum dem Eindruck einer Sprache hingeben, die
sich an dieses sein ganzes Menschentum wendet. Hört er auf, das zu können,
so hört seine Jugcnd auf, so beginnt die Verkalkung, die Verknöcherung.

Dem Junghalten dient nun im Gegensatz zur begrifflichen die
konkrete Sprache, die man auch die .künstlerische" Sprache im Gegensatze
zu jener als der „wissenschaftlichen" nennen kann. Der Probesatz b egriff-
licher Sprache, den ich vorhin herschrieb, hat uns nicht gestört, trotz
der Widersprüche, denen wir begegnen würden, wenn wir dem .Setzen,"
„Stehen" u. s. w. mit der Vorstellung nachgingen. Wir gehen ihncn
ebcn nicht nach, weil wir dazu durch die Form der Sprache nicht an-
geregt wurden. Nun aber lesen wir den hier schon wiederholt zi-
tiertcn Satz: „Dcr Zahn der Zeit, der schon viele Thränen getrocknet
hat, wird auch über diese Wundc Gras wachsen lassen" — und wir
stolpern sofort. Warum? Hicr soll uns nicht ein abstrakter Gedanke
gegeben werden, der Satz scheint sich auch an unser Gefühl zu wenden,
zu diesem Zweck ruft er die Hilfe der Phantasie herbei, erhebt er
den Anspruch, Bilder zu bringen — und versagt. Jn diesem Ver-
sehen liegt hier der Spaß, denn es handelt sich ja um einen Scherz,

2. Iuliheft 1902

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