Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,2.1902

DOI Heft:
Heft 23 (1. Septemberheft 1902)
DOI Artikel:
Brandt, Georg: Uebungen im Gedichtlesen, [3]: noch etwas über Rhethorik und Anschaulichkeit
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8191#0523

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Ls scklüpft der goldne Lonnensckein
In Tropsen an mir nieder,

Die U)oge wieget aus und ein
Die bingegebnen Glieder;

Die Arme bab' ich ausgesxannt,

5ie kommt auf mich herzugerannt,

Sie faßt und läßt mich wieder.

(Mörike.)

Das Allerherrlichste an Schauen und Anschaulichkeit finden wir
allerdings bei Goethe. Einige Beispiele nur aus seiner wundervollen
Fülle:

Und wie ich stieg, zog von dem Fluß dcr Wiesen
Lin Nebel sich in Streifen sacht hervor.

Lr wich und wechselte mich zu umfließen,

Und wuchs gcflüaelt mir ums Uaupt empor:

Des schöncn Blicks sollt ich nicht inehr genießen,

Die Gegend deckte mir ein trüber Flor;

Bald sab ich mich von wolken wie umgossen
Und mit mir selbst in Dämm'rung eingeschlossen.

*

Aber abseits, wer ist's?

Ins Gebüsch verliert sich sein pfad,

Linter ibm schlagen
Die Sträucher zusammen,

Das Gras stebt wieder auf,

Die Bede verschlingt ihn.

Jedes Gedicht, das dichterischen Schauens voll ist, ist ein gutes
Gedicht. Aber nicht.jedes Gedicht, das die Tugend eigentlicher Schau
und Anschaulichkeit wenig oder garnicht aufweist, muß darum notwendig
schlecht sein, ob das auch meistens der Fall ist. Am Anfange habe ich
bereits erwähnt, welch andere Mächte hie und da der Dichtung Schön-
heir und Wert verleihen. Der folgende Goethesche Vcrs ist ein Beispiel,
wie höchste Schönheit im wesentlichen aus dem Rhythmus hervor-
gehn kann.

wie Feld und Au
5o blinkend im Tau!

Wie perlensckwer
Die Oflanzen umher,

U)ie durcks Gebüsck

Die winde so frisch!

wie laut im bellen Sonnenstrahl

Die süßen vöglein allzumal!

Hier kann man von eigentlich dichterischer Schau nicht wohl sprechen,
hier ist der Rhythmus der eigentliche Träger des dichterischen Werts.
Welche sich unmittelbar übertragende Charakteristik ift in ihm! Die
leise Bewegung und Freude in dcr Natur ift auch in ihm, und durch
eben diese rhythmische Bildung erscheint auch die Freude zunächst noch
wie gehalten, wie leicht gchemmt. Dann erst bricht sie kräftig durch,

Septemberbeft 1902

4L9
 
Annotationen