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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,2.1902

DOI Heft:
Heft 24 (2. Septemberheft 1902)
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Platzhoff-Lejeune, Eduard: Die Literatur-Waisen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8191#0573

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gute Menschen, denen man, wenn sie im Verborgenen blieben, gar nichts
übles nachsagen dürfte, im Lichte der Oeffentlichkeit aber erschcinen sie,
da sie nicht hineingehören, so trivial und unbegabt, daß sie nunmehr
komisch wirken. Anf glänzenden Stil und hinreißende Beredsamkeit?
Ach ja, sie schreiben meist das Aufsatzdentsch der Obertertia, doch ohne
die grammatischen Kenntnisse hoffnungsvoller Jünglinge uud, vor allem,
ohne deren Aussicht auf Vervollkommnung.

Womit legitimieren sie sich also? Mit einem Dutzend geivichtiger
Argumente. Haben sie ihn nicht gekannt, als er klein war? Sind sie
nicht zusammen mit ihm in die Schule gegangen? Löffelten sie ihm nicht
Arznei ein, als er krank war? Zogen sie ihm nicht den Frack an, als
er zum Examen ging? Haben sie nicht mehr als ein Dutzend Mal Kaffee
mit ihm getrunken? Bewahren sie nicht alle seine Einladungen zu Mittag-
essen in der Briesschachtel? Und wer las „seine" Korrekturen, wer drückte
Zhm" bei der ersten Geburt eines Kleinen gerührt die Hand und wer
polterte auf seiner silbernen Hochzeit?

Das alles ist in den Augen der Literaturwaisen eine genügende
Beglaubigung, um eruste Männer zu schulmeistern, wenn sie sich an-
maßen, ohne „persönliche Bekanntschaft" mit dem „Helden" ihre eigene
Meinung zu haben. „Ach wcnn ihr ihn gekannt hättet!" — hält man ihnen
entgegen, ein Argument so unbeweisbar und unwiderleglich, wie jenes
andere, oft gehörte: „in zehn Jahren werden Sie anders denken."

Mit solchen Erzeugnissen völlig sachunverständiger Schreiberei wird
heute der Markt überschwemmt, und es finden sich immer noch Verleger
und Redakteure, die solches Unkraut nicht nur gedeihen lassen, sondern
geradezu züchten. Aber soll man darum die Waisen, Witwen, Ge-
schwister und Freunde des Verstorbencn hindern, ihre pcrsönlichen Ein-
drücke, die unter Umständcn von großem Wert sind, zu veröffentlichen?
Gewiß nicht: nur sollten die Hinterlasseuen, wenn sie nicht literarisch
geschult sind, cinem ihnen bekannten Gelehrten die Redaktion anvertrauen
und sich immer gegenwärtig halten, daß, was für sie von höchster, für
die Oeffentlichkeit oft von untergeordncter Wichtigkeit ist, und daß sie
dem Verstorbenen zu nahestehn, um ihm gerccht werden zu können.
So viel Selbstverleugnung sollte bei ihnen vielleicht doch zu finden sein,
daß sie beim Denken an den ihnen so teuren Toten andere nicht durch
Stammeln und pathetisches Gesasel zum Lächeln verführen.

Es ist aber nicht genug damit. Denn zu der überflüssigen Ver-
öffentlichung „persönlicher Erinnerungen" gesellt sich das noch überfltts-
sigere Bekanntgeben des Nachlasses „bis zum letzten Hosenknopf."
Darüber, d. h. dagegen, ist ja schon oft genug geschrieben worden,
und alles, was sich sagen läßt, ist so ziemlich gesagt. Njthtsdestoweniger
blüht die Nachlaßwissenschaft in jüngster Zeit mit einer Ueppigkeit, die
selbst die Goethephilologen mit Neid erfüllen muß. Da werden dic
Schulhefte geplündert, die Papierkörbe geleert, die Kehrichtgruben durch-
forscht und die Besen unter den Möbeln durchgezogen, ob sich nicht doch
noch ein Schnitzelchen finde, das man dem hungrigen Redakteur vor dcr
Abfassung seines jährlichen Prospektus wcnigstcns dem Titel uach könnte
zukommen lassen. Die alte Tragikomödie, daß das Hauptwerk des künf-
tigen „Großen" keinen Verleger findct, wührend sich deren cin Dutzend
Aunstwart
 
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