F. Folgerungen zur Staatlichkeit des Frankenreichs im 9. und 10. Jahrhundert
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Aufgaben und Verantwortlichkeiten für das Wohl der Christenheit, die an Ämter
(oJJz'cM) geknüpft waren. Spätestens in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts war
diese Sichtweise keineswegs nur eine abgehobene Theorie einiger weniger Stuben-
gelehrter. Sie durchzieht die Texte der politischen Praxis, die Beschlüsse der Ver-
sammlungen der weltlichen und der geistlichen Großen, sie findet sich in Briefen
von Königen, in Mahnschreiben an Laienadlige, in Rechtshandbüchern, die für
Laienadlige geschaffen wurden, in bischöflichen Ermahnungen an Landpfarrer;
und sie diente in politischen Auseinandersetzungen als Argument.
Letztlich hatten schon die Begründer der »Neuen Verfassungsgeschichte« mit ih-
rem Streben nach zeitgemäßen Forschungsbegriffen den Anspruch, die Alterität
der politischen Ordnung des Mittelalters zum Ausgangspunkt der mediävistischen
Analyse zu machen. Will man diesen Anspruch für das Frankenreich des 9. Jahr-
hunderts einlösen und zugleich das Wissen der Zeitgenossen ernstnehmen, dann
ist es notwendig, das überkommene verfassungsgeschichtliche Modell eines >Herr-
schaftsverbandes< von König und Adel durch ein komplexeres Modell zu ersetzen.
Grundbausteine für eine solche Erneuerung sind hier vorgestellt worden: Sie muß
den Episkopat als eine eigene, für die sakrale Sphäre zuständige Gruppe berück-
sichtigen, die aufgrund ihres Amtes Kontroll- und Leitungsaufgaben in der Politik
übernahm. Ein neues Modell muß darüber hinaus die Schlüsselkategorie des von
Gott auferlegten wnn'stcriMW integrieren und die damit einhergehende Ambivalenz
von Jwwor und owMS beachten - also die Vorstellung, daß alle Mächtigen für die ih-
nen anvertrauten Menschen vor Gott verantwortlich seien. Die Beziehungen zwi-
schen verschiedenen Amtsträgern und dem popM?MS waren bei alledem durchaus
hierarchisch gedacht; nicht allein Treue, sondern die Dichotomie von Aufsicht und
Mahnung, ja Vorschrift und Befehl einerseits und Gehorsam andererseits gestalte-
ten diese Beziehungen aus. Als Kernziele politischen Handelns schließlich erschei-
nen - jedenfalls idealiter - das irdische Wohl und die Erlangung des Seelenheils für
die popMÜ cän'süiun, für die wiederum eine Kontrolle und stete Besserung ihrer Le-
bensführung unabdingbar sind. Erst wenn man diesen Kanon von Vorstellungen,
Normen und Werten als Wissen der Großen des Karolingerreichs ernstnimmt, wird
sich deren politisches Handeln zeitgemäß erklären lassen.
F. Folgerungen zur Staatlichkeit des Frankenreichs
im 9. und 10. Jahrhundert
Die Kritik an der »Neuen Verfassungsgeschichte« hat Konsequenzen für die Frage
nach der staatlichen Verfaßtheit des Frankenreichs. Wenngleich sich die Mittelalter-
forschung mittlerweile von den älteren Lehre zu lösen begonnen hat, vermeiden es
deutsche Mediävisten - anders als ihre nicht-deutschen Kollegen - meist, von mittel-
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Aufgaben und Verantwortlichkeiten für das Wohl der Christenheit, die an Ämter
(oJJz'cM) geknüpft waren. Spätestens in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts war
diese Sichtweise keineswegs nur eine abgehobene Theorie einiger weniger Stuben-
gelehrter. Sie durchzieht die Texte der politischen Praxis, die Beschlüsse der Ver-
sammlungen der weltlichen und der geistlichen Großen, sie findet sich in Briefen
von Königen, in Mahnschreiben an Laienadlige, in Rechtshandbüchern, die für
Laienadlige geschaffen wurden, in bischöflichen Ermahnungen an Landpfarrer;
und sie diente in politischen Auseinandersetzungen als Argument.
Letztlich hatten schon die Begründer der »Neuen Verfassungsgeschichte« mit ih-
rem Streben nach zeitgemäßen Forschungsbegriffen den Anspruch, die Alterität
der politischen Ordnung des Mittelalters zum Ausgangspunkt der mediävistischen
Analyse zu machen. Will man diesen Anspruch für das Frankenreich des 9. Jahr-
hunderts einlösen und zugleich das Wissen der Zeitgenossen ernstnehmen, dann
ist es notwendig, das überkommene verfassungsgeschichtliche Modell eines >Herr-
schaftsverbandes< von König und Adel durch ein komplexeres Modell zu ersetzen.
Grundbausteine für eine solche Erneuerung sind hier vorgestellt worden: Sie muß
den Episkopat als eine eigene, für die sakrale Sphäre zuständige Gruppe berück-
sichtigen, die aufgrund ihres Amtes Kontroll- und Leitungsaufgaben in der Politik
übernahm. Ein neues Modell muß darüber hinaus die Schlüsselkategorie des von
Gott auferlegten wnn'stcriMW integrieren und die damit einhergehende Ambivalenz
von Jwwor und owMS beachten - also die Vorstellung, daß alle Mächtigen für die ih-
nen anvertrauten Menschen vor Gott verantwortlich seien. Die Beziehungen zwi-
schen verschiedenen Amtsträgern und dem popM?MS waren bei alledem durchaus
hierarchisch gedacht; nicht allein Treue, sondern die Dichotomie von Aufsicht und
Mahnung, ja Vorschrift und Befehl einerseits und Gehorsam andererseits gestalte-
ten diese Beziehungen aus. Als Kernziele politischen Handelns schließlich erschei-
nen - jedenfalls idealiter - das irdische Wohl und die Erlangung des Seelenheils für
die popMÜ cän'süiun, für die wiederum eine Kontrolle und stete Besserung ihrer Le-
bensführung unabdingbar sind. Erst wenn man diesen Kanon von Vorstellungen,
Normen und Werten als Wissen der Großen des Karolingerreichs ernstnimmt, wird
sich deren politisches Handeln zeitgemäß erklären lassen.
F. Folgerungen zur Staatlichkeit des Frankenreichs
im 9. und 10. Jahrhundert
Die Kritik an der »Neuen Verfassungsgeschichte« hat Konsequenzen für die Frage
nach der staatlichen Verfaßtheit des Frankenreichs. Wenngleich sich die Mittelalter-
forschung mittlerweile von den älteren Lehre zu lösen begonnen hat, vermeiden es
deutsche Mediävisten - anders als ihre nicht-deutschen Kollegen - meist, von mittel-