Dsnntrstag, 7. April 1870. Xo, 42. Vierter Jahrgang
Amls-Werkündigungsökatt für den Bezirk Schwetzingen.
Kadischr Hg pfenzeitn n g.
Erschein! wöchentlich drei Mal nebst der belletristischen Beigabe S o n n t a g s b I a t t. — Alle Postanstalten nnb Boten nehmen Bestellungenan. — P r e i 8 vierteljährlich 45 kr.s
. I n s c r a t e die dreigespaltene Petitzeile oder deren Rauin tz kr. L » k a l a n z e i g e n 2 kr.
Die Entscheidung über das
L6 Gemeindegesetz
ist in der Sitzung der I. Kannner um 2. April
gefüllt worden, und zwar zu Gunsten des Gesetzes.
Noch bis zum letzten Augenblicke konnte das Resul-
tat zMtifellaN sein. In der II. Kammer war
w ederholt ausgesprochen, daß das vorgeschlagene
Kompromiß durchaus als ein Ganzes zu betrachten
sei, an dein nickt das Eine oder Andere wieder
abgehandelt werden könne. In diesem Sinne
ward e» dort angenommen, wobei inan ausdrück-
lich hervorhob, daß, solle das Gesetz überhaupt zu
Staude kommen, das andere Haus diesem Beispiele
folgen müsse. Die Commission der !. Kammer
stckoch beantragte, aus die Beseitigung der Klassen
bei der Wahl des Gemeinderaths, sowie aus die
Uebergangsbestimmllngen in der Fassung der II.
Kammer zwar eiuzugehen, dagegen an dem Rechte
der Regierung, den Bürgermeister zu bestätigen,
sestznl,alten. Staatsrath Weizel, als Bericht-
erstatter,' gab, eine kurze B gniudung dieses Vor-
schlags.
Dagegen beantragte Geb. Ratli B laut s ch l i
Cnblocammbme der Beschlüsse der II. Kammer.
Ltaatsmimster Jo Ny unterstützte diesen Antrag.
Ter ganze Unterschied zwischen dein Commissions-
vorschlage und den Beschlüssen des andern Hauses
betras ja ohnehin ein Recht, auf welches die Ne-
uerung voir vornherein freiwillig verzichtet baue.
Der Minister gab nun die Versichernng. daß
er die praktische Bedeniung dieses Rechtes
nochmals ans das genaueste geprüft habe, daß
aber eine l mäbrige Erfahrung die Wertylosigkeit
desselben ergebe. Nun sei von dem andern Hause
ein ehrlicher Ausgleich angeboieii, da sei es doch
gewiß schöner und würdiger, die l. Kammer nähme
denselben, wie er geboteil, im Gailzen an, ohne
um dieses einzelnen Punktes nullen noch Schwie-
rigkeiten zu machen.
In einer die Bedeutung des Augenblick? scharf
hervorhebenden Rede begründete sodann Bluntschli
seinen Antrag. Zum ersten Male — so führte
er ails — seitdem in diesem Lande Gemeinde-
ordnnngen berathen werden, zeige sich die merk-
würdige Thatsache, daß in der II. Kammer eine
solche die einhellige Zustimmung aller Parteien
gefunden, während jedes einzelne Mitglied über
diesen oder jenen einzelnen Punkt des Gesetzes
die schwersten Bedenken hege. Wollte inan La
nun in der I. Kammer wieder einen einzelnen
Punkt beraliswissen, so würde dadurch die II. Kam-
mer natürlich veranlaßt, auch wieder ans die Ein-
zelheiten eiuzugehen und dann wäre wieder das
ganze Gesetz in Frage gestellt. Nun gelle aber
grade das Gemeindegesetz in der Anschauung des
Volkes für das wichtigste und nothwendigste von
allen Gesetzen, welche in dieser Session berathen
worden. Was werde da die Folge sein, wenn
gerade dieses Gesetz nicht zu Stande käme 2 Vor
uns — so ungefähr äußerte sich der Redner
lieg! eine große Wahlagitation. Fiele dieses Ge-
setz. io wurde die zersetzende Wirkung aut die
PaNeiverhäitnisse nicht ansbleiben; wir würde»
geradezu einem Chaos entgegeugehen. Kanu es
die I. Kammer verautwortou, eiueu solchen Zu-
stand H'rbeiznsühreu? Wir stehen am Abschlüsse
einer zehnjährigen Periode liberaler Staatseni-
wicklnng. Die I. Kammer ist diese !0 Jahre
hindurch bestreb! gewesen, nn Enikmnge mit dem
andern Haute den Nnsvrdernngen d.r neuen Zeit
Rechnung zu tragen, und um deswillen genießt
sie eines besseren Rufes als die meisten Ersten
Kammern. Jetzt stehen wir nun am Beginne
einer neuen, und aller Wahrscheinlichkeit, nach be-
wegteren Periode. Das demokratische Princip hat
bedeutende Fortschritte gemacht. Das vorliegende
Gesetz nimmt Rücksicht ans diese Thatsache. Soll
nun die Erste Kammer ihren guten Ruf auf's
Spiel setzen? Nein, möge sie das von dem andern
Hanse angetragene Compromiß in dem Sinne,
wie eä geboten worden, annehmen, damit wir
nicht im letzten Augenblicke der abgeschlossenen
Periode in Disharmonie auseinandergehen.
Die hierauf folgende Abstimmung ergab die
Annahme des Gesetzes mit l5 gegen 5 Stimmen.
Dagegen stimmten: Se. Gr. Hoh. Prinz Karl,
v.' Böcklin. v. Sponek, Weizel, Artaria.
So ist denn ein Gesetz zu Stande gekommen,
desseiv große Bedentnug für unser Gemcindeleben
kein unbefangen und billig Denkender verkennen
kann. Wohl hat mancher Wunsch geopfert wer-
den müssen. Aber wenn je in einem kritischen
Augenblicke, so war hier die Volksvertretung..in
der Lage, des alten, aber immer noch probaten
Wortes zu gedenken, daß das Bessere stets der
Feind des Guten ist. Bedauert haben '.vir es,
daß auch im liberalen Lager bis in die jüngsten
Tage sich eine achtbare aber ganz vereinzelte
Stimme über diese einfache Wahrlnui hinwegsetzw,
indem sie immer von Neuem ans die im jetzigen
Momem und sicher auch noch aus dem nächsten
Landtage unerreichbare Einwolniergemeinde zurück-
kam. Wir dächten, in diesem letzten Stadium
der Verhandlungen barte die einzelne Stimme
ihre Einwendungen dein so laut ausgesprochenen
V -langen der überwiegendsten Mehrheit aller
übrigen Stimmen nuterordueu können. Jndeß.
wir hoffen, daß alle wahren Freunde der Fort-
entwicklung unserer Zustände, so abweichend ihre
Wünsche auch früher gewesen, das Gesetz, wie es
nnnmehr vereinbart worden, mit Befriedigung !nn-
netzmen werben. Tie kleinliche Bemängelung des
Erreichten überlassen wir mit Vergnügen den Or-
Verschiedene Wege.
Ein Stücklein au; dcr guten alten Zeit
„Aus mckncr Knabcnzcit erinnere ich mich noch eines
alten Herrn Vetters, der in Mannheim Organist an der
Hauptkirchc war. Das Bild dieses Mannes, dcr noch so
ganz nach Form und Weftn dcr ersten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts anzehörte, schwebt mir so lebhaft vor, als
hätt' ich ihn gestern zum letzten Male gesehen, und doch
liegt zwischen uuserm letzten Begegnen hienieden und heute
auch die Hälfte eines Jahrhunderts und selbst noch mehr
denn ein Jahrzehnt drüber hinaus."
Das waren die einleitenden Worte meines nahezu
siebzigjährigen Nachbars zu Heidelberg, bei hem ich gemiith-
lich saß.'
„Ei", sagte ich zu dein lieben, geschichtenreichen Mann,
.ist'S denn möglich, daß Sie sich aller Einzelheiten entsin-
nen können?"
„Ja gewiß", sagte er, „und ich will Ihnen zeigen,
wie lebhaft und wie treu mein Gedächlniß geblieben ist,
indem ich ihnp„ vorerst den Mann schildere und Ihnen
dann die Geschichte seines Lebens erzähle, oder doch ein
wesentliches Stück davon."
„Mein Herr Vetter war, wie gesagt, alt, fast so alt,
als ich heute, da bcjnchte er uns noch einmal hier und
lebte sich in die Zeit zurück, da er auch hier studirt hatte."
„Sludirt?" fragte ich erstaunt. „Ein Organist und
studirt."
Mein Nachbar lächelte.
„Das ist's ja eben, waL Ihnen seine Geschichte inte-
ressant mache» dürfte", sagte der alte Herr. „Nun hören
Sic:
Er war damals noch ein kräftiger Greis, der sich grade
hielt, obwohl sein innerstes Wesen demüihig war, kam die
Haltung Manchem vor. wie Hochmuth. Tavon war er
himmelweit entfernt. Sein Gesicht war frisch und dessen
Ansdruck mild und heiter. Er war ein schöner Greis.
Sein Haar war reich und so gepudert, daß cs schneeweiß
war. Ein Zopf, länger wie der Friedrich's des Großen,
hing ihm schim bis auf das Kreuz. Er war fest mit schwar-
' zem Band umwickelt und diese Operation nahm ihm viel
^ Zeit weg. Oben am Kopfe war ein gewaltiger schwarzer
' Bandschlupf, so a» der Wurzel des Zopfes. Das Haar
des Vorderhauptes trug er in Form des Herz-Tonpe's, und
das stand ihm ganz vortrefflich zu Gesichte. Ging er aus,
, so saß darauf der Dreimaster von feinem Filz. Die HalS-
' binde war schneeweiß ; die rothc Sammtwestc mit goldenen
Knöpfen und schöner Stickerei, reichte von der Halsbinde
bis zum Schenkel und war zugeknöpft von oben bis unten.
.Nur an Sonntagen sah der breite, unendlich sein gefaltete
'Jabot kokett daraus hervor. Ter Rock, war von weißem
j Tuche, fein und rein, mit zinnoberrvlhem Schooß- und
i Brusiftttter. Zum Zuinöpsen war er nicht, und lief rund
. vom fingerbreiten Krägelcin über die Brust weg zum
Schooßc. der breit und lang war; dennoch war er auf der
^ rechten Seite mit unendlich großen, stark vergoldeten Knöp-
i fett besetzt; ebenso die Taschenklappen und Aermclanfschläge,
' die fast bis zum Ellnbvgcn reichten, und aus denen die
i Manschetten lang hervortraten.
Tie Hose war von schwarzem, feinem Pclüchc und
! reichte nur zum Knie, wo sic ein? feine vergoldete Schnalle
^ hielt. Weiße seidene Strümpfe umschlossen das schön be-
kundete Bein und feine Jabots den Fuß mit mächtigen, den
. ganzen Vvrderftiß bedeckenden Schnallen von Silber, durch-
^ brochen und sehr schön gearbeitet. Dazu gehörte ein achtes
^ Javarohr mit vergoldetem Knopfe, das zwei Drittthcile der
Leibeslänge hielt." —
„Sic'lächeln?" unterbrach er sein Porträtircn. „Frei-
lich die flappige Mode dieser Zeit ist eine andere; aber ich
sage Ihnen, er sah stattlich aus; es war eine Pracht von
einem Manne, der Respekt einflößte, und diese Mode hatte
Amls-Werkündigungsökatt für den Bezirk Schwetzingen.
Kadischr Hg pfenzeitn n g.
Erschein! wöchentlich drei Mal nebst der belletristischen Beigabe S o n n t a g s b I a t t. — Alle Postanstalten nnb Boten nehmen Bestellungenan. — P r e i 8 vierteljährlich 45 kr.s
. I n s c r a t e die dreigespaltene Petitzeile oder deren Rauin tz kr. L » k a l a n z e i g e n 2 kr.
Die Entscheidung über das
L6 Gemeindegesetz
ist in der Sitzung der I. Kannner um 2. April
gefüllt worden, und zwar zu Gunsten des Gesetzes.
Noch bis zum letzten Augenblicke konnte das Resul-
tat zMtifellaN sein. In der II. Kammer war
w ederholt ausgesprochen, daß das vorgeschlagene
Kompromiß durchaus als ein Ganzes zu betrachten
sei, an dein nickt das Eine oder Andere wieder
abgehandelt werden könne. In diesem Sinne
ward e» dort angenommen, wobei inan ausdrück-
lich hervorhob, daß, solle das Gesetz überhaupt zu
Staude kommen, das andere Haus diesem Beispiele
folgen müsse. Die Commission der !. Kammer
stckoch beantragte, aus die Beseitigung der Klassen
bei der Wahl des Gemeinderaths, sowie aus die
Uebergangsbestimmllngen in der Fassung der II.
Kammer zwar eiuzugehen, dagegen an dem Rechte
der Regierung, den Bürgermeister zu bestätigen,
sestznl,alten. Staatsrath Weizel, als Bericht-
erstatter,' gab, eine kurze B gniudung dieses Vor-
schlags.
Dagegen beantragte Geb. Ratli B laut s ch l i
Cnblocammbme der Beschlüsse der II. Kammer.
Ltaatsmimster Jo Ny unterstützte diesen Antrag.
Ter ganze Unterschied zwischen dein Commissions-
vorschlage und den Beschlüssen des andern Hauses
betras ja ohnehin ein Recht, auf welches die Ne-
uerung voir vornherein freiwillig verzichtet baue.
Der Minister gab nun die Versichernng. daß
er die praktische Bedeniung dieses Rechtes
nochmals ans das genaueste geprüft habe, daß
aber eine l mäbrige Erfahrung die Wertylosigkeit
desselben ergebe. Nun sei von dem andern Hause
ein ehrlicher Ausgleich angeboieii, da sei es doch
gewiß schöner und würdiger, die l. Kammer nähme
denselben, wie er geboteil, im Gailzen an, ohne
um dieses einzelnen Punktes nullen noch Schwie-
rigkeiten zu machen.
In einer die Bedeutung des Augenblick? scharf
hervorhebenden Rede begründete sodann Bluntschli
seinen Antrag. Zum ersten Male — so führte
er ails — seitdem in diesem Lande Gemeinde-
ordnnngen berathen werden, zeige sich die merk-
würdige Thatsache, daß in der II. Kammer eine
solche die einhellige Zustimmung aller Parteien
gefunden, während jedes einzelne Mitglied über
diesen oder jenen einzelnen Punkt des Gesetzes
die schwersten Bedenken hege. Wollte inan La
nun in der I. Kammer wieder einen einzelnen
Punkt beraliswissen, so würde dadurch die II. Kam-
mer natürlich veranlaßt, auch wieder ans die Ein-
zelheiten eiuzugehen und dann wäre wieder das
ganze Gesetz in Frage gestellt. Nun gelle aber
grade das Gemeindegesetz in der Anschauung des
Volkes für das wichtigste und nothwendigste von
allen Gesetzen, welche in dieser Session berathen
worden. Was werde da die Folge sein, wenn
gerade dieses Gesetz nicht zu Stande käme 2 Vor
uns — so ungefähr äußerte sich der Redner
lieg! eine große Wahlagitation. Fiele dieses Ge-
setz. io wurde die zersetzende Wirkung aut die
PaNeiverhäitnisse nicht ansbleiben; wir würde»
geradezu einem Chaos entgegeugehen. Kanu es
die I. Kammer verautwortou, eiueu solchen Zu-
stand H'rbeiznsühreu? Wir stehen am Abschlüsse
einer zehnjährigen Periode liberaler Staatseni-
wicklnng. Die I. Kammer ist diese !0 Jahre
hindurch bestreb! gewesen, nn Enikmnge mit dem
andern Haute den Nnsvrdernngen d.r neuen Zeit
Rechnung zu tragen, und um deswillen genießt
sie eines besseren Rufes als die meisten Ersten
Kammern. Jetzt stehen wir nun am Beginne
einer neuen, und aller Wahrscheinlichkeit, nach be-
wegteren Periode. Das demokratische Princip hat
bedeutende Fortschritte gemacht. Das vorliegende
Gesetz nimmt Rücksicht ans diese Thatsache. Soll
nun die Erste Kammer ihren guten Ruf auf's
Spiel setzen? Nein, möge sie das von dem andern
Hanse angetragene Compromiß in dem Sinne,
wie eä geboten worden, annehmen, damit wir
nicht im letzten Augenblicke der abgeschlossenen
Periode in Disharmonie auseinandergehen.
Die hierauf folgende Abstimmung ergab die
Annahme des Gesetzes mit l5 gegen 5 Stimmen.
Dagegen stimmten: Se. Gr. Hoh. Prinz Karl,
v.' Böcklin. v. Sponek, Weizel, Artaria.
So ist denn ein Gesetz zu Stande gekommen,
desseiv große Bedentnug für unser Gemcindeleben
kein unbefangen und billig Denkender verkennen
kann. Wohl hat mancher Wunsch geopfert wer-
den müssen. Aber wenn je in einem kritischen
Augenblicke, so war hier die Volksvertretung..in
der Lage, des alten, aber immer noch probaten
Wortes zu gedenken, daß das Bessere stets der
Feind des Guten ist. Bedauert haben '.vir es,
daß auch im liberalen Lager bis in die jüngsten
Tage sich eine achtbare aber ganz vereinzelte
Stimme über diese einfache Wahrlnui hinwegsetzw,
indem sie immer von Neuem ans die im jetzigen
Momem und sicher auch noch aus dem nächsten
Landtage unerreichbare Einwolniergemeinde zurück-
kam. Wir dächten, in diesem letzten Stadium
der Verhandlungen barte die einzelne Stimme
ihre Einwendungen dein so laut ausgesprochenen
V -langen der überwiegendsten Mehrheit aller
übrigen Stimmen nuterordueu können. Jndeß.
wir hoffen, daß alle wahren Freunde der Fort-
entwicklung unserer Zustände, so abweichend ihre
Wünsche auch früher gewesen, das Gesetz, wie es
nnnmehr vereinbart worden, mit Befriedigung !nn-
netzmen werben. Tie kleinliche Bemängelung des
Erreichten überlassen wir mit Vergnügen den Or-
Verschiedene Wege.
Ein Stücklein au; dcr guten alten Zeit
„Aus mckncr Knabcnzcit erinnere ich mich noch eines
alten Herrn Vetters, der in Mannheim Organist an der
Hauptkirchc war. Das Bild dieses Mannes, dcr noch so
ganz nach Form und Weftn dcr ersten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts anzehörte, schwebt mir so lebhaft vor, als
hätt' ich ihn gestern zum letzten Male gesehen, und doch
liegt zwischen uuserm letzten Begegnen hienieden und heute
auch die Hälfte eines Jahrhunderts und selbst noch mehr
denn ein Jahrzehnt drüber hinaus."
Das waren die einleitenden Worte meines nahezu
siebzigjährigen Nachbars zu Heidelberg, bei hem ich gemiith-
lich saß.'
„Ei", sagte ich zu dein lieben, geschichtenreichen Mann,
.ist'S denn möglich, daß Sie sich aller Einzelheiten entsin-
nen können?"
„Ja gewiß", sagte er, „und ich will Ihnen zeigen,
wie lebhaft und wie treu mein Gedächlniß geblieben ist,
indem ich ihnp„ vorerst den Mann schildere und Ihnen
dann die Geschichte seines Lebens erzähle, oder doch ein
wesentliches Stück davon."
„Mein Herr Vetter war, wie gesagt, alt, fast so alt,
als ich heute, da bcjnchte er uns noch einmal hier und
lebte sich in die Zeit zurück, da er auch hier studirt hatte."
„Sludirt?" fragte ich erstaunt. „Ein Organist und
studirt."
Mein Nachbar lächelte.
„Das ist's ja eben, waL Ihnen seine Geschichte inte-
ressant mache» dürfte", sagte der alte Herr. „Nun hören
Sic:
Er war damals noch ein kräftiger Greis, der sich grade
hielt, obwohl sein innerstes Wesen demüihig war, kam die
Haltung Manchem vor. wie Hochmuth. Tavon war er
himmelweit entfernt. Sein Gesicht war frisch und dessen
Ansdruck mild und heiter. Er war ein schöner Greis.
Sein Haar war reich und so gepudert, daß cs schneeweiß
war. Ein Zopf, länger wie der Friedrich's des Großen,
hing ihm schim bis auf das Kreuz. Er war fest mit schwar-
' zem Band umwickelt und diese Operation nahm ihm viel
^ Zeit weg. Oben am Kopfe war ein gewaltiger schwarzer
' Bandschlupf, so a» der Wurzel des Zopfes. Das Haar
des Vorderhauptes trug er in Form des Herz-Tonpe's, und
das stand ihm ganz vortrefflich zu Gesichte. Ging er aus,
, so saß darauf der Dreimaster von feinem Filz. Die HalS-
' binde war schneeweiß ; die rothc Sammtwestc mit goldenen
Knöpfen und schöner Stickerei, reichte von der Halsbinde
bis zum Schenkel und war zugeknöpft von oben bis unten.
.Nur an Sonntagen sah der breite, unendlich sein gefaltete
'Jabot kokett daraus hervor. Ter Rock, war von weißem
j Tuche, fein und rein, mit zinnoberrvlhem Schooß- und
i Brusiftttter. Zum Zuinöpsen war er nicht, und lief rund
. vom fingerbreiten Krägelcin über die Brust weg zum
Schooßc. der breit und lang war; dennoch war er auf der
^ rechten Seite mit unendlich großen, stark vergoldeten Knöp-
i fett besetzt; ebenso die Taschenklappen und Aermclanfschläge,
' die fast bis zum Ellnbvgcn reichten, und aus denen die
i Manschetten lang hervortraten.
Tie Hose war von schwarzem, feinem Pclüchc und
! reichte nur zum Knie, wo sic ein? feine vergoldete Schnalle
^ hielt. Weiße seidene Strümpfe umschlossen das schön be-
kundete Bein und feine Jabots den Fuß mit mächtigen, den
. ganzen Vvrderftiß bedeckenden Schnallen von Silber, durch-
^ brochen und sehr schön gearbeitet. Dazu gehörte ein achtes
^ Javarohr mit vergoldetem Knopfe, das zwei Drittthcile der
Leibeslänge hielt." —
„Sic'lächeln?" unterbrach er sein Porträtircn. „Frei-
lich die flappige Mode dieser Zeit ist eine andere; aber ich
sage Ihnen, er sah stattlich aus; es war eine Pracht von
einem Manne, der Respekt einflößte, und diese Mode hatte