beginne die Großstadt zu lieben, weil sie mir
Grund zu einem gesunden Haß gibt.
10. Dezember 1908
Eine Unruhe ist in mir, die beständig wächst.
Ich beginne mich zu fürchten, und weiß doch
nicht, vor wem . . .
19. Dezember 1908
Es: wird immer' schrecklicher. Mein Gott, was
ist dies nur? Ich setze mich jeden Nachmittag
in ein Cafe und studiere die Kunstnachrichten aller
erreichbaren Blätter. Ich suche seinen Namen.
1. Januar 1909
Ich weiß mir nicht mehr zu helfen vor Unruhe.
Jeden Tag fragt mich der Direktor, ob ich krank
sei . . . Ich sehe entsetzlich aus. Alles widert
mich an. Geliebter, du bist grausam, daß du die-
ses entsetzliche Schweigen solange erträgst.
Welche kleinmütigen Gedanken. Bald wird Johan-
nes eine große Tat vollbringen . . . und ich bin,
die ihm half, das Große zu schaffen.
12. Mai 1909
In einigen Tagen hat Johannes wieder Ge-
burtstag. Nun ist es schon sechs Jahre her . . .
da feierten,1 wir ihn zusammen. Ich liebe ihn heute
mehr als je. Seine Seele begehre ich. An die
Vereinigung unserer Leiber denke ich mit einem
süßen Schmerz zurück. Es war ein gestaltge-
wordener Traum; ich verlange nicht wieder da-
nach; die Flamme meine Liebe brennt rein und
still. Ganze Wochen lang gehe icli umher, frei
und fröhlich, und danke der Entsagung, die mich
groß gemacht hat. Sie hat alle Schönheiten in
mir emporgezwungen, sodaß mein Wesen weit
und bunt wurde. Die Entsagung hat mich erst
geboren, die Künstlerin . . . aber, es gibt Augen-
blicke, in denen ich nur Frieden haben möchte.
2. September 1909
Welch ein Tag! Welch ein befreiender Tag!
Nach der Probe teilte mir der Direktor mit,
daß in der Saison das Werk eines Komponisten,
dem er verpflichtet sei, aufgeführt werden solle.
Die Partitur lag vor ihm. Das Werk des Gelieb-
ten! Ich mußte an mich halten, um die Blätter
nicht zu küssen. Es ist unendlich hell in mir ge-
worden. Jetzt kommte die Tat, die ich voll-
bringen soll, die Tat, zu der alle Mühen und Nöte
der vergangenen Jahre Stufen waren . . . Jetzt
kommt die höchste Vereinigung mit dem Gelieb-
ten! Ich will sein Werk verkünden, und indem
ich mich seinem Werke hingebe, werde ich er,
ganz er . . .
9; Januar 1910
Wie groß ist sein Werk! Ich bin ganz in ihm
aufgegangen. Morgen ist die vorletzte Probe.
Ich werde sie zwingen, die Zweifler.
19. Januar 1910
Morgen ist die Aufführung.
Jetzt bin ich wieder stark und froh. Ich will
eine Vorfeier des großen Glückes halten.
20. Januar 1910. Morgens 10 Uhr
Ich fiebre. Ich taumle zwischen Seligkeit und
Angst hin und her. Wie unruhig und unzufrieden
bin ich! Kommst du, Geliebter? Wie grausam,
immer noch schweigst du . . . Es ist wahr, wir
haben uns gelobt, nie nacheinander zu forschen.
Wie schwer und wie herrlich ist die Entsagung!
Nachmittags 3 Uhr
Jetzt weilt er wohl bereits in der Stadt. Ich
habe den nüchternen Menschen vorhin im Cafe
von seinem Werk erzählt ... sie waren alle ge-
bannt. So, wie diese, will ich heute abend alle
gewinnen.
Wie er wohl aussieht? Ob er immer noch so
bleich und schön ist? Vielleicht ist der Blick sei-
ner Augen noch seltsamer, wunderbarer ge-
worden.
5 Uhr
Ein Brief von ihm! Ich küsse die geliebten
Zeilen . . . Er ist mir wieder nahe . . . Ich
werde vor ihm spielen, sein Werk den Menschen
verkünden, und er wird mich anblicken mit sei-
nen tiefen strahlenden Augen. Er erwartet mich
nach der Vorstellung . . .
Nachts 1 Uhr
Die Menschen schrien vor Entzücken. Der
Geliebte hat gesiegt. Er ist wunderbar still und
versonnen. Ich habe wieder seine weißen Hände
gestreichelt, seine tiefen Augen haben wieder in
meinen gestrahlt . . , Welch eine süße Stunde
liegt hinter mir! Groß und laut ist mein Schmerz
geworden. Nun sitzt er nicht mehr verborgen
irgendwo im Herzen, nun kommt er aufdringlich
zu mir, und ich, ich liebe ihn, ich begehre ihn,
ich fiebere nach ihm. Wie schön ist er! Wie
konnte ich mir einreden, daß mir seine Seele alles
sei? Ich habe wieder seine weiche, leise sin-
gende Stimme gehört. Ich versank in dem tie-
fen Wohllaut.
Geliebter, warum hast du das getan? Nun
hast du dich an eine andere gefesselt ... Es ist
besser, daß wir nicht immer zusammenblieben.
Es ist besser so. Liebt du sie mehr, als mich?
Johannes, Geliebter, warum hast du mir das
getan?
26. Januar 1910
Ich bin matt und mutlos. Ich spiele ohne
Liebe; ich sage nur die Worte und denke an ihn.
Mein Beruf macht mir keine Freude mehr. Ich
denke immer nur die Gedanken seines Werkes.
Ich habe das Höchste erreicht, nun fällt alles, was
Vorarbeit war, von mir ab.
28. Januar 1910
Bin ich dir nichts mehr, Geliebter? Warum
kommst du nicht? Warum schreibst du nicht?
Werde ich stark genug sein, dies bis zum Ende
zu tragen? Ich will stets an dich denken, Jo-
hannes, ich will stets an dich glauben. Denn
der Glaube ist alles. Mein Leben wird einsam
sein. Aber manchmal habe ich Augenblicke, in
denen eine selige Ruhe in mich einzieht. Dann
fühle ich, daß ich nicht zerbrechen werde an die-
ser Liebe. Wenn es mir gelingen wird, dieses
starke verachtende Lachen festzuhalten, dann
wird wohl alles so gut werden, wie diqs mög-
lich ist —
Der Arbeiter Jörg Martin hätte das gefunden,
was er gesucht hatte in den Nächten des Lernens
und Höherwollens: Befreiung.
Als er noch im Trubel bewegter Volksver-
sammlungen stand, seine klugen Augen über die
Gesichter der Männer hinschweifen ließ, und die
tägliche Not in diesen harten Gesichtern sah; als
er aus allen Augen Drohungen oder Bitten oder
Hohngelächter las; als er, Wort für Wort abwä-
gend, diesen Hunderten von versammelten Prole-
tariern seine Arbeiten, seine Hoffnungen, seine
Zukunftspläne vorlegte; als er mitten in seine be-
geisterten Worte einen beifälligen Ruf oder ein
verächtliches Zischen hineinfallen hörte —: in
jener Zeit war er glücklich, trotz dem Elend, in
dem er und die Klassengeuossen saßen; trotz der
Feindschaft, die ihm der große, gefürchtete Sozia-
lisfenführer Julius Todt entgegenbrachte; trotz
der manchmal in seinem Hirn aufzuckemden Zwei-
fel an der Verwirklichung seiner Träume. Er
hatte, das stolze Bewußtsein gehabt, Kämpfer
unter Kämpfern zu sein, Elend zu leiden, wie sie,
rettungheischend nach Osten, wo die Sonne auf-
gehen sollte, zu blicken, wie sie.
• . . Wie klein und kindlich erschienen ihm jetzt
die Heldenträume jener Tage und Nächte! Eine
Offenbarung hatte ihn beglückt: Die Schönheit
Wenn er auch früher nicht geschrien hatte, wie
sie alle, der Proletariertrotz hatte auch ihn ge-
lenkt und seinen Wünschen und Hoffnungen Rich-
tung und Ziel gegeben. Wenn er auch in sich eine
geistige Ueberlegenheit über die Genossen fühlte,
er hatte doch nicht gewußt, um wie viel höher ein
Mensch mit seltenen Gedanken steht. Jetzt wußte
er, daß Proletarier in alle Ewigkeit Proletarier
blieben, auch wenn ein Messias ihnen Schätze und
Ehre und Macht vor die Füße legte.
Aus dem Arbeiter war ein Mensch geworden,
der Schönheiten ahnte, die allen seinen Klassen-
genossen verborgen waren. Durch den Umgang
mit dem Künstler hatte er sich selbst erst ganz
kennen gelernt. Für die materielle Unabhängig-
keit der Proletarier hatte er gekämpft, und ge-
wähnt, was alle wähnten: Daß sie geistige Höhen
erreichen würden, wenn sie erst ohne täglich
wühlende und niederdrückende Sorgen leben konn-
ten. Jetzt aber glaubte er, daß eine geistige Har-
monie den Menschen unfähig mache, trostlos zu
sein.
Ohne Zittern trat Jörg Martin vor die Prole-
tarier der Großstadt, die er zusammenrief, um
ihnen die Schönheit zu predigen, das edle Gleich-
maß in Wort und Tat, und ihnen zu sagen, daß in
der Musik das Höchste erreicht sei, was ein
Mensch erreichen könne.
Dumpf und schwerfällig stand die Luft in dem
großen Saal. Die Wände reckten sich gespenster-
haft weiß in die schwer geschnitzte Holzdecke..
Durch hohe schmale Fenster glänzte ein grauer
Schneehimmel. Der Saal machte den Eindruck
eines Betraumes. Hier versammelten sich die Ge-
nossen, wenn sie Beschlüsse fassen, neue Pläne
erwägen, neue Hoffnung schöpfen wollten. Hier
kamen verbitterte arme Menschen zusammen, um
zu einem widrigen Schicksal mit trotzigen Wor-
ten zu beten: Wir wollen dich zwingen, uns gnä-
dig zu sein!
Schlicht, fast ärmlich lag der Saal unter der
dunklen Holzdecke. Er gab den vielen Arbeitern
das Gefühl, daß sie hier nicht nötig hätten, be-
drückt zu sein und sich benachteiligt zu fühlen.
Er mäßigte ihre Verbitterung; aber bald fachte er
sie auch an, indem er diese gequälten Menschen
an die Dürftigkeit ihres Daseins erinnerte. Dann
blitzten ihre Augen auf, ihre Hände ballten sich zu
harten Fäusten, ihre Herzen schlugen wilder und
heißer ... Sie fühlten ihre Not, aber zu gleicher
Zeit auch ihre Macht, wenn sie zusammenstanden
und kämpften wie ein Mann.
.... Ohne Zittern trat Jörg Martin vor die
Proletarier der Großstadt. Als er von der Redner-
tribüne herab ihre Gesichter sah, fühlte er sich
heimisch unter diesen rauhen, vom Leben zer-
schiittelten Männern.
Stolz im Bewußtsein seiner großen Aufgabe,
begann er, zu reden. Er sprach in der Sprache
des gewöhnlichen Mannes, was ihm im Herzer,..
lebte; er versuchte nicht, die einfachen Menschen
mit feingeschliffenen Worten zu betören. Fröhlich
flössen seine Worte und gewannen manchen der
Proletarier durch ihre ungewollte Schönheit.
158
Grund zu einem gesunden Haß gibt.
10. Dezember 1908
Eine Unruhe ist in mir, die beständig wächst.
Ich beginne mich zu fürchten, und weiß doch
nicht, vor wem . . .
19. Dezember 1908
Es: wird immer' schrecklicher. Mein Gott, was
ist dies nur? Ich setze mich jeden Nachmittag
in ein Cafe und studiere die Kunstnachrichten aller
erreichbaren Blätter. Ich suche seinen Namen.
1. Januar 1909
Ich weiß mir nicht mehr zu helfen vor Unruhe.
Jeden Tag fragt mich der Direktor, ob ich krank
sei . . . Ich sehe entsetzlich aus. Alles widert
mich an. Geliebter, du bist grausam, daß du die-
ses entsetzliche Schweigen solange erträgst.
Welche kleinmütigen Gedanken. Bald wird Johan-
nes eine große Tat vollbringen . . . und ich bin,
die ihm half, das Große zu schaffen.
12. Mai 1909
In einigen Tagen hat Johannes wieder Ge-
burtstag. Nun ist es schon sechs Jahre her . . .
da feierten,1 wir ihn zusammen. Ich liebe ihn heute
mehr als je. Seine Seele begehre ich. An die
Vereinigung unserer Leiber denke ich mit einem
süßen Schmerz zurück. Es war ein gestaltge-
wordener Traum; ich verlange nicht wieder da-
nach; die Flamme meine Liebe brennt rein und
still. Ganze Wochen lang gehe icli umher, frei
und fröhlich, und danke der Entsagung, die mich
groß gemacht hat. Sie hat alle Schönheiten in
mir emporgezwungen, sodaß mein Wesen weit
und bunt wurde. Die Entsagung hat mich erst
geboren, die Künstlerin . . . aber, es gibt Augen-
blicke, in denen ich nur Frieden haben möchte.
2. September 1909
Welch ein Tag! Welch ein befreiender Tag!
Nach der Probe teilte mir der Direktor mit,
daß in der Saison das Werk eines Komponisten,
dem er verpflichtet sei, aufgeführt werden solle.
Die Partitur lag vor ihm. Das Werk des Gelieb-
ten! Ich mußte an mich halten, um die Blätter
nicht zu küssen. Es ist unendlich hell in mir ge-
worden. Jetzt kommte die Tat, die ich voll-
bringen soll, die Tat, zu der alle Mühen und Nöte
der vergangenen Jahre Stufen waren . . . Jetzt
kommt die höchste Vereinigung mit dem Gelieb-
ten! Ich will sein Werk verkünden, und indem
ich mich seinem Werke hingebe, werde ich er,
ganz er . . .
9; Januar 1910
Wie groß ist sein Werk! Ich bin ganz in ihm
aufgegangen. Morgen ist die vorletzte Probe.
Ich werde sie zwingen, die Zweifler.
19. Januar 1910
Morgen ist die Aufführung.
Jetzt bin ich wieder stark und froh. Ich will
eine Vorfeier des großen Glückes halten.
20. Januar 1910. Morgens 10 Uhr
Ich fiebre. Ich taumle zwischen Seligkeit und
Angst hin und her. Wie unruhig und unzufrieden
bin ich! Kommst du, Geliebter? Wie grausam,
immer noch schweigst du . . . Es ist wahr, wir
haben uns gelobt, nie nacheinander zu forschen.
Wie schwer und wie herrlich ist die Entsagung!
Nachmittags 3 Uhr
Jetzt weilt er wohl bereits in der Stadt. Ich
habe den nüchternen Menschen vorhin im Cafe
von seinem Werk erzählt ... sie waren alle ge-
bannt. So, wie diese, will ich heute abend alle
gewinnen.
Wie er wohl aussieht? Ob er immer noch so
bleich und schön ist? Vielleicht ist der Blick sei-
ner Augen noch seltsamer, wunderbarer ge-
worden.
5 Uhr
Ein Brief von ihm! Ich küsse die geliebten
Zeilen . . . Er ist mir wieder nahe . . . Ich
werde vor ihm spielen, sein Werk den Menschen
verkünden, und er wird mich anblicken mit sei-
nen tiefen strahlenden Augen. Er erwartet mich
nach der Vorstellung . . .
Nachts 1 Uhr
Die Menschen schrien vor Entzücken. Der
Geliebte hat gesiegt. Er ist wunderbar still und
versonnen. Ich habe wieder seine weißen Hände
gestreichelt, seine tiefen Augen haben wieder in
meinen gestrahlt . . , Welch eine süße Stunde
liegt hinter mir! Groß und laut ist mein Schmerz
geworden. Nun sitzt er nicht mehr verborgen
irgendwo im Herzen, nun kommt er aufdringlich
zu mir, und ich, ich liebe ihn, ich begehre ihn,
ich fiebere nach ihm. Wie schön ist er! Wie
konnte ich mir einreden, daß mir seine Seele alles
sei? Ich habe wieder seine weiche, leise sin-
gende Stimme gehört. Ich versank in dem tie-
fen Wohllaut.
Geliebter, warum hast du das getan? Nun
hast du dich an eine andere gefesselt ... Es ist
besser, daß wir nicht immer zusammenblieben.
Es ist besser so. Liebt du sie mehr, als mich?
Johannes, Geliebter, warum hast du mir das
getan?
26. Januar 1910
Ich bin matt und mutlos. Ich spiele ohne
Liebe; ich sage nur die Worte und denke an ihn.
Mein Beruf macht mir keine Freude mehr. Ich
denke immer nur die Gedanken seines Werkes.
Ich habe das Höchste erreicht, nun fällt alles, was
Vorarbeit war, von mir ab.
28. Januar 1910
Bin ich dir nichts mehr, Geliebter? Warum
kommst du nicht? Warum schreibst du nicht?
Werde ich stark genug sein, dies bis zum Ende
zu tragen? Ich will stets an dich denken, Jo-
hannes, ich will stets an dich glauben. Denn
der Glaube ist alles. Mein Leben wird einsam
sein. Aber manchmal habe ich Augenblicke, in
denen eine selige Ruhe in mich einzieht. Dann
fühle ich, daß ich nicht zerbrechen werde an die-
ser Liebe. Wenn es mir gelingen wird, dieses
starke verachtende Lachen festzuhalten, dann
wird wohl alles so gut werden, wie diqs mög-
lich ist —
Der Arbeiter Jörg Martin hätte das gefunden,
was er gesucht hatte in den Nächten des Lernens
und Höherwollens: Befreiung.
Als er noch im Trubel bewegter Volksver-
sammlungen stand, seine klugen Augen über die
Gesichter der Männer hinschweifen ließ, und die
tägliche Not in diesen harten Gesichtern sah; als
er aus allen Augen Drohungen oder Bitten oder
Hohngelächter las; als er, Wort für Wort abwä-
gend, diesen Hunderten von versammelten Prole-
tariern seine Arbeiten, seine Hoffnungen, seine
Zukunftspläne vorlegte; als er mitten in seine be-
geisterten Worte einen beifälligen Ruf oder ein
verächtliches Zischen hineinfallen hörte —: in
jener Zeit war er glücklich, trotz dem Elend, in
dem er und die Klassengeuossen saßen; trotz der
Feindschaft, die ihm der große, gefürchtete Sozia-
lisfenführer Julius Todt entgegenbrachte; trotz
der manchmal in seinem Hirn aufzuckemden Zwei-
fel an der Verwirklichung seiner Träume. Er
hatte, das stolze Bewußtsein gehabt, Kämpfer
unter Kämpfern zu sein, Elend zu leiden, wie sie,
rettungheischend nach Osten, wo die Sonne auf-
gehen sollte, zu blicken, wie sie.
• . . Wie klein und kindlich erschienen ihm jetzt
die Heldenträume jener Tage und Nächte! Eine
Offenbarung hatte ihn beglückt: Die Schönheit
Wenn er auch früher nicht geschrien hatte, wie
sie alle, der Proletariertrotz hatte auch ihn ge-
lenkt und seinen Wünschen und Hoffnungen Rich-
tung und Ziel gegeben. Wenn er auch in sich eine
geistige Ueberlegenheit über die Genossen fühlte,
er hatte doch nicht gewußt, um wie viel höher ein
Mensch mit seltenen Gedanken steht. Jetzt wußte
er, daß Proletarier in alle Ewigkeit Proletarier
blieben, auch wenn ein Messias ihnen Schätze und
Ehre und Macht vor die Füße legte.
Aus dem Arbeiter war ein Mensch geworden,
der Schönheiten ahnte, die allen seinen Klassen-
genossen verborgen waren. Durch den Umgang
mit dem Künstler hatte er sich selbst erst ganz
kennen gelernt. Für die materielle Unabhängig-
keit der Proletarier hatte er gekämpft, und ge-
wähnt, was alle wähnten: Daß sie geistige Höhen
erreichen würden, wenn sie erst ohne täglich
wühlende und niederdrückende Sorgen leben konn-
ten. Jetzt aber glaubte er, daß eine geistige Har-
monie den Menschen unfähig mache, trostlos zu
sein.
Ohne Zittern trat Jörg Martin vor die Prole-
tarier der Großstadt, die er zusammenrief, um
ihnen die Schönheit zu predigen, das edle Gleich-
maß in Wort und Tat, und ihnen zu sagen, daß in
der Musik das Höchste erreicht sei, was ein
Mensch erreichen könne.
Dumpf und schwerfällig stand die Luft in dem
großen Saal. Die Wände reckten sich gespenster-
haft weiß in die schwer geschnitzte Holzdecke..
Durch hohe schmale Fenster glänzte ein grauer
Schneehimmel. Der Saal machte den Eindruck
eines Betraumes. Hier versammelten sich die Ge-
nossen, wenn sie Beschlüsse fassen, neue Pläne
erwägen, neue Hoffnung schöpfen wollten. Hier
kamen verbitterte arme Menschen zusammen, um
zu einem widrigen Schicksal mit trotzigen Wor-
ten zu beten: Wir wollen dich zwingen, uns gnä-
dig zu sein!
Schlicht, fast ärmlich lag der Saal unter der
dunklen Holzdecke. Er gab den vielen Arbeitern
das Gefühl, daß sie hier nicht nötig hätten, be-
drückt zu sein und sich benachteiligt zu fühlen.
Er mäßigte ihre Verbitterung; aber bald fachte er
sie auch an, indem er diese gequälten Menschen
an die Dürftigkeit ihres Daseins erinnerte. Dann
blitzten ihre Augen auf, ihre Hände ballten sich zu
harten Fäusten, ihre Herzen schlugen wilder und
heißer ... Sie fühlten ihre Not, aber zu gleicher
Zeit auch ihre Macht, wenn sie zusammenstanden
und kämpften wie ein Mann.
.... Ohne Zittern trat Jörg Martin vor die
Proletarier der Großstadt. Als er von der Redner-
tribüne herab ihre Gesichter sah, fühlte er sich
heimisch unter diesen rauhen, vom Leben zer-
schiittelten Männern.
Stolz im Bewußtsein seiner großen Aufgabe,
begann er, zu reden. Er sprach in der Sprache
des gewöhnlichen Mannes, was ihm im Herzer,..
lebte; er versuchte nicht, die einfachen Menschen
mit feingeschliffenen Worten zu betören. Fröhlich
flössen seine Worte und gewannen manchen der
Proletarier durch ihre ungewollte Schönheit.
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