Volkszeitung
Tageszeitung für die Werktätige Bevölkerung der Amtsbezirke Heidelberg, Wiesloch, Sinsheim, Eppingen, Eberbach, Mosbach, Buchen,
Adelsheim, Boseberg, Tauberbifchofsheim und Wertheim.
Bezugspreis: Monatlich einschl. Trägerlohn 10.— Mk. Anzeigenpreise:
Die einspaltige Petitzeile (36 mrn breit) 2,— Mk-, Reklame-Anzeigen
(93 mm brett) 6.— Mk. Bei Wiederholungen Nachlaß nach Tarif.
Eeheimmrttelanzeigen werden nicht ausgenommen.
EesSiäftsstunden: 8—'/,6 Uhr. Sprechstunden derRedaktion: 11—12 Uhr.
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Heidelberg, Freitag, 17. Februar 1922
Nr. 41 * 4. Jahrgang
Verantwort!.: Für innere ».äußerePolitik, Volkswirtschaft u.Feuilleton:
Dr.E. Kraus; für Kommunales, soziale Rundschau und Lokales:
O. Eeibel; für die Anzeigen: H. Horchler, sämtliche in Heidelberg.
Druck u. Verlag der Unterbadischen Verlagsanstalt G. m. b. H., Heidelberg.
Geschäftsstelle: Schroderstraße 39.
Fernsprecher: Anzeigen-Annahme 2S73, Redaktion^ 26-18.
Das Vertrauensvotum.
Die entscheidende Reichstagssitzrmg. — Das Echo in der Presse. — Die Angst der
Rechten vor der
großen
LinksZoalition.
Der Sieg der Kabinetts Wirth
Die entscheidende Reichstagssitzuns-
Bon unserem Berliner Bureau wird uns geschrieben:
Der Sieg, dendieRegterungWirth-Bauer-Rathe-
» a u am 15. Februar im Reichstag errang, ivar überraschend
groß. Von 431 abgegebenen Stimmen fielen 220 auf das Ver-
trauensvotum zu der Regierung, 185 lauteten auf .Nein", 16 auf
Enthaltung. Man hatte in den letzten Stunden vor der Abstimmung
eine Mehrheit von 6—10 Stimmen für die Regierung heraus-
gerechnet, in Wirklichkeit beträgt die Mehrheit 35 oder, wenn man
die Enthaltungen nrit den „Nein"-Stimmen zusammenrechnet,
immer noch 19. Der Reichstag hat zur Zeit 469 Mitglieder, bet
vollbesetztem Hause würde die Mehrheit 235 Stimmen betragen,
lass doch noch 15 Stimmen mehr, als Herr Wirth sie für das
Vertrauensvotum erhalten bat. Tatsächlich haben sich aber nur
421 Abgeordnete an der Abstimmung beteiligt, 48 sind von ihr
ferngeblieben. Die Bänke der Regierungsparteien waren also
offenbar viel besser besetzt als jene der Opposition. Von der
sozialdemokratischen Reichstagssraktion fehlte beispielsweise nur ein
einziger Mann, der in Ostpreußen schwer krank darniederlicgende
Genosse Seemann. Bet den Demokraten und beim Zentrum,
das durch die 4 bayerischen Bauernbttndler verstärkt wurde, wäh-
rend die bayerische Volkspartei sich der Abstimmung enthielt,
scheint die Besetzung ebenso gut gewesen zu sein. Die Koalition hat
also die Feuerprobe bestanden, sie hat sozusagen de« letzter: Mann
auf die Beine gebracht und einen überraschend großen Sieg davsn-
Mragem
Die 48 fehlenden Abgeordneten gehöre» offenbar, von ganz
wenigen Ausnahmen abgesehen, der Opposition an. Der Wille zu
siegen war hier offenbar nicht in dem gleiche» Maße vorhanden
wie bei den Koaltttonsparteien. Einzelne der Absenzen mögen
sich aus Gleichgültigkeit erklären lassen. Der weitausgrößte Teil
ist aber so zu erklären, daß verschiedene Abgeordnete, um sich dem
Fraktionszwang zu entziehen und nicht gegen die Regierung stim-
men zu müssen, vor der Abstimmung den Saal verließen. Bon
der Fraktion der Unabhängigen wurden gleich nach der Abstim-
mung 10 Mitglieder rmmentlich genannt, die so gehandelt haben,
Aehnlich scheint es auf der anderen Seit« bei der Deutschen VolkS-
Partei zugegangen zu sein.
Manche Leute behaupten «ein großer Teil der Unabhängige«
hätte sich an den Bravorufen, mit denen sie Koalitionsparteien das
Ergebnis der Abstimmung begrüßten, stürmisch beteiligt. Aber
das scheint uns doch nur eine boshafte Erfindung. Freilich, wer
die Gesichter auf den Bänken der Unabhängigen in diesem Augen-
blick betrachtete, der sah ganz deutlich, wie sehr vielen Leuten
ein paar schwere Steine vom Herzen fielen. Wäre die Regierung
an: Mittwoch gestürzt, so hätte es bei der U.S.P. nur einen
Schreckensruf gegeben: „O Weh, wir haben gesiegt!" So wie die
Dinge nun gelaufen sind, konnte man sich mit einem stillen Ge-
murmel begnügen: „Gott und alle Heiligen seien gepriesen, wir
sind geschlagen worden!" Die Situation, in die sich die U.S.P.
durch ihre rein Parteiagitatorische Einstellung hineinmanövriert
hatte, ivar allerdings so, daß es einen Hund hätte erbarmen könne».
Jedermann wußte, daß Helffertch und Sttnnes die Führer
der Sturmtrilppen waren, die gegen die Regierung angesetzt wur-
den, und dank ihrer glänzenden Taktik waren die Unabhängigen
gezwungen Hinter dieser Führung mitsamt ihrem kommunistischen
Schwanz hinter dretnzumarschieren. Crispiens und Dittmanns
Tiraden wurden immerzu von höhnischen Rufen unterbrochen:
Also stimmt ihr mit Sünnes!" Jetzt ist die Stinnes-Koalttion mit
Euch fertig!" Und das ganze Haus widerhallte von Gelachter.
Genosse Müller-Franken fertigte dann in einer der besten
Reden, die er jemals gehalten hat, und die keine 5 Minuten
dauerte, die unabhängigen Langredner so treffend ab, daß wirklich
don ihnen nichts übrig blieb. Wohl niemals noch hat sich eine
Partei in einer gleich bemitleidenswerteren Lage befunden, wie die
u S.P. au diesem Mittwoch!
Nachdem der Kampf nun entschieden ist, mutz alles dafür getan
Werden, werden, datz der Steg auch seine Früchte trägt. Darunter
verstehen wir in erster Linie eine Politik der Reichsregternng, die
den berechtigten Beschwerde« der Beamten gerecht wird. Schon
w der Mittwochsdebatte konnte der Reichsminister Groener mit-
'Alen, datz manche übereilte Maßnahmen, die in der ersten Hitze
dach dem Streik getroffen wurden, wieder rückgängig gemacht
worden sind. Man kann daraus ersehen, datz die Sozialdemo-
^cutsche Partei während der letzten Krisentage im Interesse der
Beamten nicht untätig geblieben ist. Sie wird aber jetzt, nachdem
^otz des unsinnigen Verhaltens der Unabhängigen der Sturz der
Regierung und die Bildung einer neuen Scharfmacherregierung
verhindert worden,ist, ihre Anstrengungen vervielfältigen müssen,
»n jeder Rachepolttik, die von untergeordneten Behörden getrieben
werden könnte, einen sicheren Riegel vorzuschieben. Die Etsenbah-
^er hatten in ihrem Kampfe sicher in vielem Unrecht; vor allem
^arin, daß sie unter Mißachtung aller gewerkschaftlichen Regeln in
«nen wilden Streik eintraten. Aber in einem haben sie sicherlich
Recht: Wenn man ihnen das Streikrecht absprechen wollte, wenn
daz Streiken bet ihnen schon an und für sich als eine straf-
Handlung ansehen wollte, dann hätte man ihnen das recht-
sollen und nicht erst, nachdem sie die Streikbewegnng
soweit vorwärtsgeirieben hatten, daß sie nicht mehr zurück konnten.
Von der Regierung Wtrttz erwarten wir, datz sie diesem Ge-
sichtspunkte Rechnung trage «wird. Von einer Regierung, wie sie
gekommen wäre, wenn die Rechte mit Hilfe der Unabhängigen und
Kommunisten gesiegt hätte, hätte» wir das freilich nicht erwarten
können. Die sozialdemokratische Partei hat die Interessen der Ar-
beiter und auch der Beamten dadurch am beste« gewahrt, daß sie
durch geschlossene Abgabe aller ihrer Stimmen für den gestellten
Vertrauensantrag das Zustandekommen einer Rechtsregierung ver-
hinderte.
*
Ueber die entscheidende Sitzung des Reichstags
geht uns aus dem Reichstag selbst noch folgendes Stimmungs-
bild zu:
Die entscheidende Sttzmtg des Reichstags zeigte schon rein
äußerlich diegrotzeBedentungdesTages. Der Sitzungs-
saal war mit Abgeordneten und Regierungsvertretern ««gefüllt,
wie nur sehr selten. Auf den Tribünen und in der Diplo-
ma t e n l o g e drängten sich die Zuhörer Kopf an Kopf. Seit der
Krtegssttzung am 4. August 1914 hat das HauS nicht wieder einen
solchen Andrang erlebt. Die Sozialdemokratie hatte ihre Abge-
ordneten buchstäblich bis auf de» letzten Mann herangeholt. 107
Genossen und Genossinnen waren anwesend. Der einzige, der
fehlte, war durch schwere Krankheit entschuldigt. Als um 4 Uhr
die Glocke» und Sirenen das Haus alarmierten, stieg die Spannung
aufs Höchste. Aus der Pressetribüne, wo deutsche und ausländische
Journalisten sich in fürchterlicher Enge begnügen mußten, reckten
sich die Hälse. Die Entscheidung schien da zu sein. Noch aber gab
eS eine harte Geduldsprobe. Der deutschnationale Führer Hergt
verlangte in großer Pose vorn Kanzler eine Erklärung, ob er den
Antrag der Regierungsparteien als ein allgemeines Vertrauens-
votum auffasse. Wirth bestätigte das in einigen knappen Worte«
und wies mit Recht darauf hin, datz seine gesamte Rede zum
Eisenbahnerstreik von der auswärtiger: Politik des Reiches aus-
gegangen sei. Die Regierungsparteien hätten auf Erklärungen
verzichte» können. Sie wurden aber zu kurzen Reden gezwungen
durch die Ansprachen, die nacheinander die Unabhängigen, die zah-
me» Kommunisten und die wilde» Kommunisten hielte». Rur die
Furcht, daß ihre Abstimmuug an der Seite von Sttnnes und
Helffertch, datz diese Regierungsstürzeret auf Sttnnes Kommando
mißverstanden werden kömtte, trieb sie ans Rednerpult. Der
malerische Crtspien hielt eine seiner rollenden APoftelreden, die
klänge«, als wenn au seiner alten Gieskanne getutet wird. Ditt -
ni a i: n wischte dem Reichsverkehrsmtnister, gegen der: er persönlich
geladen ist, noch einiges aus, Levß immerhin ein leidlich intel-
ligenter Mensch, hielt eine Rede, die sich vorteilhaft von dem
Wortgetöse der unabhängigen Sprecher abhob. Könen aber von
den allein echten Kommunisten, bewies der U.S.P., daß ihr ganzer
Mitztrauensantrag nur eitel Schauspieleret sei, denn die Regie-
rung Wirth sei ja nur mit Hilfe der Unabhängigen überhaupt
möglich gewesen. I« einer kurzen Rede zeigte Hermann Mü ller,
wie sich klar und eindeutig die Politik der Sozialdemokratie über
den Stinnesblock von Hergt bis Hölletn erhebt.
Die Abstimmung kam. Prüfend überblickt man den Saal.
Man kennt ja die ruhig und kühl überlegenen Politiker der Ver-
nunft, auch in den Oppositionsparteien. Was werden sie tun?
Man sucht auf den Bänke« der Unabhängige« vergebens nach
Dttzmnnn, Lipinski, Jäckel und einigen »«deren verantwortungs-
vollen Männern. Breit scheid geht vor der Abstimmung mit
Bitterkeit im Antlitz hinaus. Der Weitblickende Autzenpolitiker kann
sich unmöglich dazu hergeben, diese Regierung Wirth stürzen zu
helfe» . In: ganzen mögen ein Dutzend Unabhängige sich an
diesem Trauerspiel nicht beteiligt haben. Sie verdienen den Dank
des Proletariats. Das Zentrum zeigt einige Lücken. Es ist
Wohl mancher vom rechten Flügel daheim geblieben, um nicht für
Wirth stimmen zu müssen. Auch von der Bayerische» Volksparlei
haben einige den Saal verlassen, di» vier bayerischen Bauernbünd-
ler geben unter des knorrigen Eisenbergers Führung entschlossen
ihre Weißen „Ja"-Zettel für die Regierung Wirth ab. Auch von
der Deutschen Volksparlei haben sich einige Abgeordente an der
Abstimmung nicht beteiligt. Der süddeutsche Abgeordnete Schirmer
stimmte für das Kabinett Wirth.
Nach wenigen Minuten verkündet Lvbe das Ergebnis. Einige
Sekunden atemlose Stille, dann löst sich die Spannung in brausende
Beifallsrufe der Regierungsparteien, und auf den überfüllten Tri-
bünen setzt ein minutenlanger Beifallssturm mit Händeklatschen ein.
In großer Bewegung verließen die Abgeordneten den Saal.
Den an sich wichtigen sachliche» Beratungen über das Reichsmieten-
gesetz schenkte niemand mehr Gehör. In der Wandelhalle war noch
bis zum Abend reges politisches Getriebe. Abgeordnete, Minister,
Journalisten erörterten die Lage. Die sozialdemokratische Fraktion
trat sofort nach der Abstimmung zu einer Sitzung zusammen, um
sich über diesen wichtigen Tag und feine nächsten Folgen Rechen-
schaft zu geben.
Die Presse zum Vertrauensvotum.
Der Rechtspresse ist die überraschende Mehrheit für das Ka-
Vinekt Wirch schwer in die Mieder gefahren, insbesondere Mer
die von uns bereits gestern entsprechend gewürdigte Tatsache, daß
ein nicht Keiner TM der Unabhängigen durch Stimmenthaltung
diesen Steg Wirths erst ermöglicht hat. „So haben wir also,
wenn auch erst -mittelbar, die große Koalition der Linken", schreibt
mit fühlbarer Entrüstung der „Mannheimer General-Anzeiger"
und weiter meint er:
„Man ^ann eS immerhin visttsicht heute begrüßen, daß i»
diesem Augenblick bas Land vor einem Kabinettswechsel be-
wahrt worden ist.
Aber daß Dr. Wirth auf den von den Unabhängigen gelie-
hene» Krücke» in sein amtliches Leven zurückkchvt, berührt den-
noch unbehaglich. Die Herrs» um Crrspien, Lsdebonr und
Breitscheid stny nicht eigentlich sentimental, auch wenn, was wir
immerhin annchmen möchten, keinerlei Verpflichtungen
eingegangen wurden, kann das Schwergewicht, das in den Din-
gen liegt, leicht es dazu bringen, datz die Regierung mehr von
dm Unabhängigen wie von den Sozialisten über Haupt abhän-
gig wird, als dem Gemeinwesen frommt als Zentrum und De-
mokraten vor allem tragen könnten."
Aehnlich klingt eS aus der Berliner Rechtspresse: Die „Kreuz-
zeitting" erlaubt sich, direkt von einem Kuhhandel zwischen Re-
gierung und Unabhängigen zu sprechen, mw fragt nach dem ge-
zahlten Preise. Sie ist überzeugt, Latz die Regierung W-irch jetzt
nach der Pfeife der Unabhängigen tanzen müsse und ist so ver-
zweifelt, daß sie das Wort zittert: „Es möchte kein Hmtd so län-
ger leben". Ja, so kann es gehen, wem: man eine Regierung durch
ein Mißtrauensvotum stürzen will. Die „Tägliche Rundschau"
redet von einem Pyrrhussieg der politischen Perversität und er-
zählt ihren Lesern, die Minderheit der Unabhängigen habe für die
Regierung gestimmt. Die Möglichkeit einer Verbreiterung der Re-
giermtigKisMiwn nach rechts sei jetzt endgMtdg begrabe», und es
trete umso deutlicher die Möglichkeit Siner Koalition nach links
Hervor.
Das „Berliner Tageblatt" wendet sich Mr scharf gegen di«
Deutsche Bolkspartei, die durch die MittwochsentscheNmng einen
Dämpfer bekomme» habe, der sie hoffentlich künftig etwas beschei-
dener machen wird. Wenn sie sich jetzt nicht dazu Halte, werde
schließlich auch das Stmerkompromttz von ei»»r anderen Mehrheit
durchgeführt werden „mit Variationen freilich, die den Herren der
Großindustrie und der Volkspartei nicht ss glatt üeruulergehen
werden wie Ne vielumsirrtrene Zwangsgulsihe "
Die „Wvsstsche Zeitung" bezeichnet die gestrige Abstimmung
als die erste wirkliche Probe auf das parlarnentavische System in
Deutschland. Der „Vorwärts" nennt das Ergebnis der Abstim-
mung für Deutschland erfreulich, für die Koalition ermutigend,
für die Opposition beschämend. Mar: solle jetzt, nachdem sich die
alte Koalition in der schwersten Krise als durchaus MstungsfäHW
erwiesen habe, nicht gleich wieder mit altem Gerede und alten
Vorschläge» zur „Verbreitung der Koalition" kommen, sondern
an die praktische Arbeit Herangehen. Die „Freiheit" ist, wenn sie
es Mich nicht direkt aussprtcht, offensichtlich befriedigt, daß der
Sturz der Regierung vermieden wurde. Sie weist darauf hin-
«daß eine Minderheit der Unabhängigen Fraktion für Stimment-
haltung Linsetretsrr ist und klärt den Erfolg der Negierung dar-
aus, daß die Opposition stärkere Lücken aufgewiesen habe als die
Rechte. Sie richtet die Aufforderung an den Kanzler, mit seinem
bisherige« Streben die AußenpMtK mit der Link«:, di« Innen-
Politik mit der Deutsche»: Volkspartei zu machen, zu brechen und
sich für sine klare Politik zu entscheiden. In der Steuerfrage werde
es kein Ausweichen mehr geben."
Auch die volksparteiliche Presse steht infolge der Abstimmung
die Gefahr der LiNkskoalttwn, sie sucht sie daher nrit allen Mitteln
zu diskreditieren. So schreibt die „Zett" «. a.: „Der Reichs-
kanzler müsse fetzt einsehen, daß Sicherheit lind StMHkeit der
Regierung sich nur auf breitere Basis errichten lassen, und datz er
eine Partei, die sachlich mitznarbetten gewillt ist, auch wem: sie
nicht in der Regierung sitzt, nicht wie eine verpflichtete Hilssgrnppe
zu behandeln habe, Ne mit zu tateil, aber „nix tau seg-gen" habe.
Wirchs stille und tiefe Liebe zu der» Enken Fliigel der Sozialde-
mokraten und den Unabhängigen diirse in diesen Tagen einige
Stöße erlitte» haben, denn so gering schätzen wir sein PEtifchss
Verständnis wirklich nicht ein, datz er rricht eiwzusehe» vermöchte,
daß ein Bündnis mit Cnspien und Dittman« eine Höllenfahrt des
Staates bedeuten würde. Und wenn vielleicht aus Anlaß, nicht
infolge der heutigen Abstimmung, der Breiifweidche Flügel der
Much hängigen seine lange gewünschte Verbrüderung mit der
Mehrheitssozialdemokratie vollziehen würde, so würde das dis
Mehrheitssozialdemokratie zwar an Zahl stärker mache:», aber
ihren Wert für eine ausbanende Regierung nicht erhöhe», sonder»
infolge der Radikalisierung vermindern, und Rachenaus Tätigkeit
Ar Genua würde durch diesen Zuwachs zur Regierungspartei
sicherlich nicht erleichtert werden."
Eine zusaurmenfassMide Wertung aller dieser Pressestimmen
bestätigt uns di« Richtigkeit der Folgerungen, die wir bereits ge-
stern aus der Swstinnmmg des Reichstags gezogen haben. Die
Politik unserer Partei wird jetzt vor allem darin bestehen Müssen,
die zarten Keime einer positiven und praktischen VernunstpoliiA.
die an der Haltung der Unabhängigen zum Ausdruck gekommen
sind, zu entwickeln und sie früher oder später für die von der Rech-
ten so gefürchtete große LirrMsMtion fruchtbar zu »rachen. Alles
hängt natürlich davon ab, inwieweit die Unabhängige« diese im
Interesse des Proletariats gelegene BernrmftpoMik mitzumaÄen
bereit find.
Das Urteil der „Neuen Züricher Zeitung".
Di« „N. Z. Zig." schreibt Wer die Abstimmung im Reichstag:
„Reichskanzler Wirch hat der: offenen parlaurrntarischen
Aasnpf, den er letzten Samstag der vereinigten Opposition anzu-
tragen wagte, mit Erfolg bestanden: die politische Ver-
nunft Hat Wer die persönliche Intrige gesiegt. Freilich betrüg-
die Mehrheit, die sich entschlossen hinter die Politik des Ka-
binetts gestellt hat, nur 35 Stimmelr; sie ist aber doch größer, als
man erwarte« durste. Die 220 für die Regierung abgegevem«
Sti-nnuM entsprechen genau der Partsistmcke der drei AoaKttons-
parteien (Zentrum, Demo traten -und Sozialdemokraten). Die Vies
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Das Vertrauensvotum.
Die entscheidende Reichstagssitzrmg. — Das Echo in der Presse. — Die Angst der
Rechten vor der
großen
LinksZoalition.
Der Sieg der Kabinetts Wirth
Die entscheidende Reichstagssitzuns-
Bon unserem Berliner Bureau wird uns geschrieben:
Der Sieg, dendieRegterungWirth-Bauer-Rathe-
» a u am 15. Februar im Reichstag errang, ivar überraschend
groß. Von 431 abgegebenen Stimmen fielen 220 auf das Ver-
trauensvotum zu der Regierung, 185 lauteten auf .Nein", 16 auf
Enthaltung. Man hatte in den letzten Stunden vor der Abstimmung
eine Mehrheit von 6—10 Stimmen für die Regierung heraus-
gerechnet, in Wirklichkeit beträgt die Mehrheit 35 oder, wenn man
die Enthaltungen nrit den „Nein"-Stimmen zusammenrechnet,
immer noch 19. Der Reichstag hat zur Zeit 469 Mitglieder, bet
vollbesetztem Hause würde die Mehrheit 235 Stimmen betragen,
lass doch noch 15 Stimmen mehr, als Herr Wirth sie für das
Vertrauensvotum erhalten bat. Tatsächlich haben sich aber nur
421 Abgeordnete an der Abstimmung beteiligt, 48 sind von ihr
ferngeblieben. Die Bänke der Regierungsparteien waren also
offenbar viel besser besetzt als jene der Opposition. Von der
sozialdemokratischen Reichstagssraktion fehlte beispielsweise nur ein
einziger Mann, der in Ostpreußen schwer krank darniederlicgende
Genosse Seemann. Bet den Demokraten und beim Zentrum,
das durch die 4 bayerischen Bauernbttndler verstärkt wurde, wäh-
rend die bayerische Volkspartei sich der Abstimmung enthielt,
scheint die Besetzung ebenso gut gewesen zu sein. Die Koalition hat
also die Feuerprobe bestanden, sie hat sozusagen de« letzter: Mann
auf die Beine gebracht und einen überraschend großen Sieg davsn-
Mragem
Die 48 fehlenden Abgeordneten gehöre» offenbar, von ganz
wenigen Ausnahmen abgesehen, der Opposition an. Der Wille zu
siegen war hier offenbar nicht in dem gleiche» Maße vorhanden
wie bei den Koaltttonsparteien. Einzelne der Absenzen mögen
sich aus Gleichgültigkeit erklären lassen. Der weitausgrößte Teil
ist aber so zu erklären, daß verschiedene Abgeordnete, um sich dem
Fraktionszwang zu entziehen und nicht gegen die Regierung stim-
men zu müssen, vor der Abstimmung den Saal verließen. Bon
der Fraktion der Unabhängigen wurden gleich nach der Abstim-
mung 10 Mitglieder rmmentlich genannt, die so gehandelt haben,
Aehnlich scheint es auf der anderen Seit« bei der Deutschen VolkS-
Partei zugegangen zu sein.
Manche Leute behaupten «ein großer Teil der Unabhängige«
hätte sich an den Bravorufen, mit denen sie Koalitionsparteien das
Ergebnis der Abstimmung begrüßten, stürmisch beteiligt. Aber
das scheint uns doch nur eine boshafte Erfindung. Freilich, wer
die Gesichter auf den Bänken der Unabhängigen in diesem Augen-
blick betrachtete, der sah ganz deutlich, wie sehr vielen Leuten
ein paar schwere Steine vom Herzen fielen. Wäre die Regierung
an: Mittwoch gestürzt, so hätte es bei der U.S.P. nur einen
Schreckensruf gegeben: „O Weh, wir haben gesiegt!" So wie die
Dinge nun gelaufen sind, konnte man sich mit einem stillen Ge-
murmel begnügen: „Gott und alle Heiligen seien gepriesen, wir
sind geschlagen worden!" Die Situation, in die sich die U.S.P.
durch ihre rein Parteiagitatorische Einstellung hineinmanövriert
hatte, ivar allerdings so, daß es einen Hund hätte erbarmen könne».
Jedermann wußte, daß Helffertch und Sttnnes die Führer
der Sturmtrilppen waren, die gegen die Regierung angesetzt wur-
den, und dank ihrer glänzenden Taktik waren die Unabhängigen
gezwungen Hinter dieser Führung mitsamt ihrem kommunistischen
Schwanz hinter dretnzumarschieren. Crispiens und Dittmanns
Tiraden wurden immerzu von höhnischen Rufen unterbrochen:
Also stimmt ihr mit Sünnes!" Jetzt ist die Stinnes-Koalttion mit
Euch fertig!" Und das ganze Haus widerhallte von Gelachter.
Genosse Müller-Franken fertigte dann in einer der besten
Reden, die er jemals gehalten hat, und die keine 5 Minuten
dauerte, die unabhängigen Langredner so treffend ab, daß wirklich
don ihnen nichts übrig blieb. Wohl niemals noch hat sich eine
Partei in einer gleich bemitleidenswerteren Lage befunden, wie die
u S.P. au diesem Mittwoch!
Nachdem der Kampf nun entschieden ist, mutz alles dafür getan
Werden, werden, datz der Steg auch seine Früchte trägt. Darunter
verstehen wir in erster Linie eine Politik der Reichsregternng, die
den berechtigten Beschwerde« der Beamten gerecht wird. Schon
w der Mittwochsdebatte konnte der Reichsminister Groener mit-
'Alen, datz manche übereilte Maßnahmen, die in der ersten Hitze
dach dem Streik getroffen wurden, wieder rückgängig gemacht
worden sind. Man kann daraus ersehen, datz die Sozialdemo-
^cutsche Partei während der letzten Krisentage im Interesse der
Beamten nicht untätig geblieben ist. Sie wird aber jetzt, nachdem
^otz des unsinnigen Verhaltens der Unabhängigen der Sturz der
Regierung und die Bildung einer neuen Scharfmacherregierung
verhindert worden,ist, ihre Anstrengungen vervielfältigen müssen,
»n jeder Rachepolttik, die von untergeordneten Behörden getrieben
werden könnte, einen sicheren Riegel vorzuschieben. Die Etsenbah-
^er hatten in ihrem Kampfe sicher in vielem Unrecht; vor allem
^arin, daß sie unter Mißachtung aller gewerkschaftlichen Regeln in
«nen wilden Streik eintraten. Aber in einem haben sie sicherlich
Recht: Wenn man ihnen das Streikrecht absprechen wollte, wenn
daz Streiken bet ihnen schon an und für sich als eine straf-
Handlung ansehen wollte, dann hätte man ihnen das recht-
sollen und nicht erst, nachdem sie die Streikbewegnng
soweit vorwärtsgeirieben hatten, daß sie nicht mehr zurück konnten.
Von der Regierung Wtrttz erwarten wir, datz sie diesem Ge-
sichtspunkte Rechnung trage «wird. Von einer Regierung, wie sie
gekommen wäre, wenn die Rechte mit Hilfe der Unabhängigen und
Kommunisten gesiegt hätte, hätte» wir das freilich nicht erwarten
können. Die sozialdemokratische Partei hat die Interessen der Ar-
beiter und auch der Beamten dadurch am beste« gewahrt, daß sie
durch geschlossene Abgabe aller ihrer Stimmen für den gestellten
Vertrauensantrag das Zustandekommen einer Rechtsregierung ver-
hinderte.
*
Ueber die entscheidende Sitzung des Reichstags
geht uns aus dem Reichstag selbst noch folgendes Stimmungs-
bild zu:
Die entscheidende Sttzmtg des Reichstags zeigte schon rein
äußerlich diegrotzeBedentungdesTages. Der Sitzungs-
saal war mit Abgeordneten und Regierungsvertretern ««gefüllt,
wie nur sehr selten. Auf den Tribünen und in der Diplo-
ma t e n l o g e drängten sich die Zuhörer Kopf an Kopf. Seit der
Krtegssttzung am 4. August 1914 hat das HauS nicht wieder einen
solchen Andrang erlebt. Die Sozialdemokratie hatte ihre Abge-
ordneten buchstäblich bis auf de» letzten Mann herangeholt. 107
Genossen und Genossinnen waren anwesend. Der einzige, der
fehlte, war durch schwere Krankheit entschuldigt. Als um 4 Uhr
die Glocke» und Sirenen das Haus alarmierten, stieg die Spannung
aufs Höchste. Aus der Pressetribüne, wo deutsche und ausländische
Journalisten sich in fürchterlicher Enge begnügen mußten, reckten
sich die Hälse. Die Entscheidung schien da zu sein. Noch aber gab
eS eine harte Geduldsprobe. Der deutschnationale Führer Hergt
verlangte in großer Pose vorn Kanzler eine Erklärung, ob er den
Antrag der Regierungsparteien als ein allgemeines Vertrauens-
votum auffasse. Wirth bestätigte das in einigen knappen Worte«
und wies mit Recht darauf hin, datz seine gesamte Rede zum
Eisenbahnerstreik von der auswärtiger: Politik des Reiches aus-
gegangen sei. Die Regierungsparteien hätten auf Erklärungen
verzichte» können. Sie wurden aber zu kurzen Reden gezwungen
durch die Ansprachen, die nacheinander die Unabhängigen, die zah-
me» Kommunisten und die wilde» Kommunisten hielte». Rur die
Furcht, daß ihre Abstimmuug an der Seite von Sttnnes und
Helffertch, datz diese Regierungsstürzeret auf Sttnnes Kommando
mißverstanden werden kömtte, trieb sie ans Rednerpult. Der
malerische Crtspien hielt eine seiner rollenden APoftelreden, die
klänge«, als wenn au seiner alten Gieskanne getutet wird. Ditt -
ni a i: n wischte dem Reichsverkehrsmtnister, gegen der: er persönlich
geladen ist, noch einiges aus, Levß immerhin ein leidlich intel-
ligenter Mensch, hielt eine Rede, die sich vorteilhaft von dem
Wortgetöse der unabhängigen Sprecher abhob. Könen aber von
den allein echten Kommunisten, bewies der U.S.P., daß ihr ganzer
Mitztrauensantrag nur eitel Schauspieleret sei, denn die Regie-
rung Wirth sei ja nur mit Hilfe der Unabhängigen überhaupt
möglich gewesen. I« einer kurzen Rede zeigte Hermann Mü ller,
wie sich klar und eindeutig die Politik der Sozialdemokratie über
den Stinnesblock von Hergt bis Hölletn erhebt.
Die Abstimmung kam. Prüfend überblickt man den Saal.
Man kennt ja die ruhig und kühl überlegenen Politiker der Ver-
nunft, auch in den Oppositionsparteien. Was werden sie tun?
Man sucht auf den Bänke« der Unabhängige« vergebens nach
Dttzmnnn, Lipinski, Jäckel und einigen »«deren verantwortungs-
vollen Männern. Breit scheid geht vor der Abstimmung mit
Bitterkeit im Antlitz hinaus. Der Weitblickende Autzenpolitiker kann
sich unmöglich dazu hergeben, diese Regierung Wirth stürzen zu
helfe» . In: ganzen mögen ein Dutzend Unabhängige sich an
diesem Trauerspiel nicht beteiligt haben. Sie verdienen den Dank
des Proletariats. Das Zentrum zeigt einige Lücken. Es ist
Wohl mancher vom rechten Flügel daheim geblieben, um nicht für
Wirth stimmen zu müssen. Auch von der Bayerische» Volksparlei
haben einige den Saal verlassen, di» vier bayerischen Bauernbünd-
ler geben unter des knorrigen Eisenbergers Führung entschlossen
ihre Weißen „Ja"-Zettel für die Regierung Wirth ab. Auch von
der Deutschen Volksparlei haben sich einige Abgeordente an der
Abstimmung nicht beteiligt. Der süddeutsche Abgeordnete Schirmer
stimmte für das Kabinett Wirth.
Nach wenigen Minuten verkündet Lvbe das Ergebnis. Einige
Sekunden atemlose Stille, dann löst sich die Spannung in brausende
Beifallsrufe der Regierungsparteien, und auf den überfüllten Tri-
bünen setzt ein minutenlanger Beifallssturm mit Händeklatschen ein.
In großer Bewegung verließen die Abgeordneten den Saal.
Den an sich wichtigen sachliche» Beratungen über das Reichsmieten-
gesetz schenkte niemand mehr Gehör. In der Wandelhalle war noch
bis zum Abend reges politisches Getriebe. Abgeordnete, Minister,
Journalisten erörterten die Lage. Die sozialdemokratische Fraktion
trat sofort nach der Abstimmung zu einer Sitzung zusammen, um
sich über diesen wichtigen Tag und feine nächsten Folgen Rechen-
schaft zu geben.
Die Presse zum Vertrauensvotum.
Der Rechtspresse ist die überraschende Mehrheit für das Ka-
Vinekt Wirch schwer in die Mieder gefahren, insbesondere Mer
die von uns bereits gestern entsprechend gewürdigte Tatsache, daß
ein nicht Keiner TM der Unabhängigen durch Stimmenthaltung
diesen Steg Wirths erst ermöglicht hat. „So haben wir also,
wenn auch erst -mittelbar, die große Koalition der Linken", schreibt
mit fühlbarer Entrüstung der „Mannheimer General-Anzeiger"
und weiter meint er:
„Man ^ann eS immerhin visttsicht heute begrüßen, daß i»
diesem Augenblick bas Land vor einem Kabinettswechsel be-
wahrt worden ist.
Aber daß Dr. Wirth auf den von den Unabhängigen gelie-
hene» Krücke» in sein amtliches Leven zurückkchvt, berührt den-
noch unbehaglich. Die Herrs» um Crrspien, Lsdebonr und
Breitscheid stny nicht eigentlich sentimental, auch wenn, was wir
immerhin annchmen möchten, keinerlei Verpflichtungen
eingegangen wurden, kann das Schwergewicht, das in den Din-
gen liegt, leicht es dazu bringen, datz die Regierung mehr von
dm Unabhängigen wie von den Sozialisten über Haupt abhän-
gig wird, als dem Gemeinwesen frommt als Zentrum und De-
mokraten vor allem tragen könnten."
Aehnlich klingt eS aus der Berliner Rechtspresse: Die „Kreuz-
zeitting" erlaubt sich, direkt von einem Kuhhandel zwischen Re-
gierung und Unabhängigen zu sprechen, mw fragt nach dem ge-
zahlten Preise. Sie ist überzeugt, Latz die Regierung W-irch jetzt
nach der Pfeife der Unabhängigen tanzen müsse und ist so ver-
zweifelt, daß sie das Wort zittert: „Es möchte kein Hmtd so län-
ger leben". Ja, so kann es gehen, wem: man eine Regierung durch
ein Mißtrauensvotum stürzen will. Die „Tägliche Rundschau"
redet von einem Pyrrhussieg der politischen Perversität und er-
zählt ihren Lesern, die Minderheit der Unabhängigen habe für die
Regierung gestimmt. Die Möglichkeit einer Verbreiterung der Re-
giermtigKisMiwn nach rechts sei jetzt endgMtdg begrabe», und es
trete umso deutlicher die Möglichkeit Siner Koalition nach links
Hervor.
Das „Berliner Tageblatt" wendet sich Mr scharf gegen di«
Deutsche Bolkspartei, die durch die MittwochsentscheNmng einen
Dämpfer bekomme» habe, der sie hoffentlich künftig etwas beschei-
dener machen wird. Wenn sie sich jetzt nicht dazu Halte, werde
schließlich auch das Stmerkompromttz von ei»»r anderen Mehrheit
durchgeführt werden „mit Variationen freilich, die den Herren der
Großindustrie und der Volkspartei nicht ss glatt üeruulergehen
werden wie Ne vielumsirrtrene Zwangsgulsihe "
Die „Wvsstsche Zeitung" bezeichnet die gestrige Abstimmung
als die erste wirkliche Probe auf das parlarnentavische System in
Deutschland. Der „Vorwärts" nennt das Ergebnis der Abstim-
mung für Deutschland erfreulich, für die Koalition ermutigend,
für die Opposition beschämend. Mar: solle jetzt, nachdem sich die
alte Koalition in der schwersten Krise als durchaus MstungsfäHW
erwiesen habe, nicht gleich wieder mit altem Gerede und alten
Vorschläge» zur „Verbreitung der Koalition" kommen, sondern
an die praktische Arbeit Herangehen. Die „Freiheit" ist, wenn sie
es Mich nicht direkt aussprtcht, offensichtlich befriedigt, daß der
Sturz der Regierung vermieden wurde. Sie weist darauf hin-
«daß eine Minderheit der Unabhängigen Fraktion für Stimment-
haltung Linsetretsrr ist und klärt den Erfolg der Negierung dar-
aus, daß die Opposition stärkere Lücken aufgewiesen habe als die
Rechte. Sie richtet die Aufforderung an den Kanzler, mit seinem
bisherige« Streben die AußenpMtK mit der Link«:, di« Innen-
Politik mit der Deutsche»: Volkspartei zu machen, zu brechen und
sich für sine klare Politik zu entscheiden. In der Steuerfrage werde
es kein Ausweichen mehr geben."
Auch die volksparteiliche Presse steht infolge der Abstimmung
die Gefahr der LiNkskoalttwn, sie sucht sie daher nrit allen Mitteln
zu diskreditieren. So schreibt die „Zett" «. a.: „Der Reichs-
kanzler müsse fetzt einsehen, daß Sicherheit lind StMHkeit der
Regierung sich nur auf breitere Basis errichten lassen, und datz er
eine Partei, die sachlich mitznarbetten gewillt ist, auch wem: sie
nicht in der Regierung sitzt, nicht wie eine verpflichtete Hilssgrnppe
zu behandeln habe, Ne mit zu tateil, aber „nix tau seg-gen" habe.
Wirchs stille und tiefe Liebe zu der» Enken Fliigel der Sozialde-
mokraten und den Unabhängigen diirse in diesen Tagen einige
Stöße erlitte» haben, denn so gering schätzen wir sein PEtifchss
Verständnis wirklich nicht ein, datz er rricht eiwzusehe» vermöchte,
daß ein Bündnis mit Cnspien und Dittman« eine Höllenfahrt des
Staates bedeuten würde. Und wenn vielleicht aus Anlaß, nicht
infolge der heutigen Abstimmung, der Breiifweidche Flügel der
Much hängigen seine lange gewünschte Verbrüderung mit der
Mehrheitssozialdemokratie vollziehen würde, so würde das dis
Mehrheitssozialdemokratie zwar an Zahl stärker mache:», aber
ihren Wert für eine ausbanende Regierung nicht erhöhe», sonder»
infolge der Radikalisierung vermindern, und Rachenaus Tätigkeit
Ar Genua würde durch diesen Zuwachs zur Regierungspartei
sicherlich nicht erleichtert werden."
Eine zusaurmenfassMide Wertung aller dieser Pressestimmen
bestätigt uns di« Richtigkeit der Folgerungen, die wir bereits ge-
stern aus der Swstinnmmg des Reichstags gezogen haben. Die
Politik unserer Partei wird jetzt vor allem darin bestehen Müssen,
die zarten Keime einer positiven und praktischen VernunstpoliiA.
die an der Haltung der Unabhängigen zum Ausdruck gekommen
sind, zu entwickeln und sie früher oder später für die von der Rech-
ten so gefürchtete große LirrMsMtion fruchtbar zu »rachen. Alles
hängt natürlich davon ab, inwieweit die Unabhängige« diese im
Interesse des Proletariats gelegene BernrmftpoMik mitzumaÄen
bereit find.
Das Urteil der „Neuen Züricher Zeitung".
Di« „N. Z. Zig." schreibt Wer die Abstimmung im Reichstag:
„Reichskanzler Wirch hat der: offenen parlaurrntarischen
Aasnpf, den er letzten Samstag der vereinigten Opposition anzu-
tragen wagte, mit Erfolg bestanden: die politische Ver-
nunft Hat Wer die persönliche Intrige gesiegt. Freilich betrüg-
die Mehrheit, die sich entschlossen hinter die Politik des Ka-
binetts gestellt hat, nur 35 Stimmelr; sie ist aber doch größer, als
man erwarte« durste. Die 220 für die Regierung abgegevem«
Sti-nnuM entsprechen genau der Partsistmcke der drei AoaKttons-
parteien (Zentrum, Demo traten -und Sozialdemokraten). Die Vies