N-lkszeüVNg
Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung der Amtsbezirke Heidelberg, Wiesloch, Sinsheim, Epping en, Eberbach, Mosbach, Buchen,
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Heidelberg, Donnerstag, 13. April 1922
Nr. 88 * 4. Jahrgang
Verantwort!.: Für innere u. äußere Politik, Volkswirtschaft «.Feuilleton:
Dr.E. Kraus; für Kommunales, soziale Rundschau und Lokales:
O.Geibel; für ine Anzeigen H. Horch ler, sämtliche in Heidelberg.
Druck u. Verlag der Unterbadischen Verlagsanstalt G. m. b. H., Heidelberg.
Geschäftsstelle: Schröderstraße 38.
Fernsprecher: Anzsigen-Annahme 2673, Redaktion 2648.
Das russische Problem.
Der Vorschlag der alliierten Sachverständigen.
Nach dem Beschluß vom Montag sollte heute Donners-
tag vormittag )411 Uhr die Unterkommission der politischen
Kommission in Genua zusammentreten, um das russische Problem
aus der Grundlage der Londoner Denkschrift aufzurollen. Nach
den heute morgen vorliegenden Meldungen ist eine wettere
Verschiebung dieser Sitzung auf Wunsch der russischen Dele-
gation nicht ausgeschlossen, lieber die grundsätzlichen Probleme,
um die es sich in der Stellungnahme zu dieser Denkschrift handelt,
telegraphiert der Sonderberichterstatter der „Franks. Ztg.":
Der wesentliche Inhalt dieser Vorschläge ist seinerzeit, in der
englischen Presse angegeben worden. Es handelt sich einmal um
die Anerkennung der Kriegsschuld und der ausländischen privaten,
durch die Staatsumwälzung in Rußland zugefügten Schäden,
für die voller Ersatz geleistet werden soll. Es handelt sich zum
anderen um die Sicherung künftiger Staatslrrdite und privater
Unternehmungen in Rußland, ohne die eine Teilnahme des aus-
ländischen Kapitals an der Wiederaufrichtung Rußlands unmög-
lich ist. Die Vorschläge der alliierten Experten hierfür gehen zum
Teil ganz außerordentlich weit. Für die neue Obligation,
die zum Ersatz der bezeichneten Verpflichtungen geschaffen werden
soll und für die Zinsfundierung und Amortisterungsaufschub bis
1927 vorgesehen ist, soll eine Schnldenverwaltungskont -
Mission eingesetzt werden, die mit einer „Oette pudiigue" ver-
zweifelte Aeynlichkeit hat, besonders wenn ihr nach dem Plan
eines Teiles der alliierten Sachverständigen sogar das Recht ge-
geben werden soll, einen bestimmte» Teil der russischen Staats-
einnahmen für den Dienst dieser Obligation zu' reservieren lind
zum Einzug zu bringen. Ebenso gehen die Vorschläge für die
Nchgestaltung des russische» Rechts gegenüber den Ausländern
zum Teil ungeheuer weit, wenn sie z. B. in Aussicht nehmen, daß
Verhaftungen von Ausländern nicht ohne Beistand oder Zustim-
mung ihres Konsuls erfolgen dürseir, daß im Falle der Verurtei-
lung wegen eines kriminellen Deliktes das Urteil nur mit Zustim-
mung ihres Konsuls solle vollstreckt werden dürfen, und daß
wegen politischer Delikte nur auf Ausweisung erkannt werden
dürfe. Bei alledem ist aber zu betonen, daß die alliierten Sach-
verständigen selbst nicht in allem einig waren und daß die
alliierten Regierungen sich nicht an diese Vorschläge ihrer Sach-
verständigen gebunden haben. Sie können in ihren Forderun-
gen dahinter Zurückbleiben, allerdings morgen auch darüber hinaus-
gehen. Was Rußlands Haltung betrifft, so besteht triftiger Grund
für die Annahme, daß die russische Delegation sachgemäßen Forde-
rungen zustimmen werde, weil ja ihr Interesse an dem Einströmen
fremden Kapitals und an der Wiederverknüpfung mit der Welt-
wirtschaft sehr dringend ist, und das; sie sich darüber hinausgehen-
dc» Forderungen widersetzen wird, doch mit denk Bestreben, es
möglichst morgen nicht zum Bruch kommen zu lassen.
Was die Schulden angeht, so heißt es, daß die Russen die
Streichung der Kriegsschulden u. die Anrechnung der von Wränget
und Denikin angerichteten Schäden aus die Vorkriegsschülden for-
dern wollen. Daß in bezug auf die Alliiertenforderungen Rußland
nicht Beding,tilgen unterworfen werde, die es zu einer neuen
Türkei machen würden, ist dabei sicherlich auch deutsches Interesse,
schon weil gegen manches, was Rußland ablehnen dürfte, auch »vir
selbst uns gegenüber dm Zumutungen der Rcpnrationskommissio»
zur Wehr zu setzen haben.
Die französische Schlappe in der Finanz-
kommission.
Genua, 12. April. In der Finanz komm ission gab
es genau solche Zwischensätze wie bei der Bildung der vdrbereitcn-
den politischen Unterkommission unter Schanzers Vorsitz, in der es
zu einer japanischen Warnung und einem offiziellen rumänischen
Protest gegen Rußland kam. Vor allem scheint sich der fran-
zösisch-russische Kleinkrieg sortsetze» zu wollen. Im
Finanzausschuß spielten sich die Temperamentszenen zwischen dem
Franzosen Picard und dem Ukrainer Rakowskiab. Schließ-
lich gelang die Bildung der finanziellen Unterkommission, nachdem
Sir Robert H orne einen Antrag der Franzosen, die Russen und
die Deutsche» aus der Unterkommission auszuschließen, durch ge-
schickte Geschäftsführung zu Fall gebracht hatte. Finanzminister
Hermes, der sich wiederholt an der Aussprache in französischer
und englischer Sprache beteiligte, und ebenso Dr. Rathdnau
erwiesen sich hierbei als sehr scharfdenkende und wirksame Anwälte
des berechtigten deutschen Standpunktes. Picard kam nach der
Sitzung aus Hermes zu und versicherte ihm, daß er feinen geschei-
terten Antrag bezüglich der Besetzung der Unterkommission nicht
gegen Deutschland, sondern nur gegen Rußlands Beteiligung rich-
ten wollte. An der Wirtschaftskommission, in derSehdoux den
Vorsitz führt, werden von deutscher Seite die Herren Krämer,
Baltrus ch, Kreuter und Bergmann neben dem Minister
Schmidt teilnehmen. Auch diese Kommission wird 11 Stimm-
berechtigte enthalten und auch ihre Verhandlungen werden zunächst
insofern nicht vertraulich sein, als auch sie nach jeder Sitzung einen
amtlichen Bericht ausgeben wird.
Der Zusammentritt der Wirtschaftskommission.
Genua, 12. April. Heute vormittag 10 Uhr hat die Sitzung
der Kommission für Wirtfchastsfragen flattgefunden, für
die als Delegierte Rat Henau und Roichswirtschastsminister
Schmidt, als stellvertretende Delegierte die Staats sokretäre v.
Sim so» und Hirsch benannt sind. Die Sitzung wurde in
Vertretung des. -italienischen HMdSlsnsimsters von dem italieni-
schen Delegierten Olivetti eröffnet, der ans die Notwendigkeit
der Zusammenarbeit Mer Nationen, das freie Spiel der Kräfte
nnd die beste Ausnützung der natürlichen Reichtümer lhinwies.
Olivetti schlug vor, als Vorsitzenden den Franzosen Colrat
und -als dessen Vertreter SeyDoux zu wählen. Die englische
und bergische Delegation schlossen sich diesem Vorschlag an. Eolrat
übernahm den Vorsitz und schlug in gleicher Weise wie für die
erste und zweite Kommission auch eine Unterkoni-mifsion für Wirt-
schafts- und Verkehrsfragen der österreichischen Nachfolgestaaten
vor. Der tschechoslowakische Vertreter widersprach diesem Antrag,
-ebenso Polen, welches Unlerkommissionen nach Materien vorschlug.
Der Vorsitzende legte Polen nahe, diesen Antrag zurückznzi-e-
lhen. Die Ernennung von weiteren Untekkonrmisstonen nach Ma-
terien könne Vorbehalten bleiben, bis -die jetzt zu errichtende Urtter-
kom-misston die Tagesordnung und VerhanNungKgoaenstände fest-
gestellt habe. Auf eine von Holland eingebrachte und von
Norwegen und schließlich von England müerstützte An-
regung, den kleinen Staaten in dieser Kommission mehr als vier
Vertreter zu geben, wurde beschlossen, daß die kleinen- Staaten
fünf Vertreter -haben sollen.
Nach Unterbrechung der Sitzung wurden als Vertreter der
kleinen Staaten fünf Angehörige -der Staaten Norwegen, Schweiz,
Holland, Jugoslawien und Lettland ernannt. Die Unterkommis-
sion wird am Samstag vonnfttag 10^ Uhr zu ihrer ersten Sitzung
zusammen,treten.
Die Ueberrctchung der deutschen Denkschrift.
Genua, 12. April. In der Heutigen Sitzung der Wirt-
schaftskommission haben die Deutschen Delegier-
ten die große deutsche Denkschrift überreicht. Wie ver-
lautet, enthält diese Denkschrift nach Darlegung der Wirtschafts-
lage Deutschlands einen Vorschlag, eine interuat io » ale An-
leihe im Namen Deutschlands mit -G-onchmigung der Entente-
mächte aufzulegen.
Me N e pa r a t i o n s ko m m -i s s i o n Hat den in Genua ver-
sammelten Ententemächten «ine statistische Aufstellung über
Deutschlands Z-ahlungspflichten und die bisher er-
folgten deutschen Zahlungen übermittelt.
Die deutsche» Kommissionsmitglieder
In die einzelnen Ausschüsse sind folgende -deutsche
Herren entsandt worden:
1. Ausschuß (für Rußland): Vorsitzender: v. Ma st-
rähn; Sachverständige: BErusch, Bernhard, Bücher, Cunow,
H »lfferd i n g, Melchior, von Raumer und W i s s e l l.
2. Ausschuß (Finanzfragen): Vorsitzender Schrö-
der; Sachverständige: Bergmann, Bernhard, Erkelenz, von Haverv-
stetzn, Htlfserding, Hagen, Melchior, von Mendelssohn; Ref.:
Dorn, Norden und Nordhoff.
3. Ausschuß (Wirtschaftsfragen): Bors. Hirsch;
stellvertr. Bors.: Weigert; Sachvstge.: Baltrufch, Bücher» Erkelenz,
Hage», H ue, Kostenberg, Krämer, Kreuter, Lübsen, v. Mendels-
sohn, v. Raumer und Wissell; Referenten: Berger u. Löwe.
4. Ausschuß (Verkehrs fragen): Vorsitzender: Skie-
le r; Sachverständige: Bücher, Cunow, Hu6, Lübsen und Krämer.
Hue schwer erkrankt.
Berlin, 13. April. Reichstagsabgeovdueter und Arveiter-
sührersührer Otto H u S ist an einer Lungenentzündung schwer
erkrankt. Da Huö Mitglied der deutschen Delegation für Genna
ist, wird bei seiner Erkrankung die Ernennung eines anderen Ver-
treters für die Delegation notwendig.
Die ReparationSkommisston und die deutsche
Antwort.
Scharfer französisch-englischer Meinungskampf.
Paris, 12. April. Das „Oeuvre" meldet, der englische
Vertreter in der Reparattouskommission, Sir Robert Brad-
ls u ry, habe in der Sitzung der Reparationskommission daraus yin-
gewiesen, daß esgefährlich und unzweü m ä tzig wäre, wenn
die Kommission von den Ententeregierungen Sanktionen gegen
Deutschland verlange. Damit würde die Reparationskommission
gewissermaßen abdanken und außerdem unfehlbar die Ber-
söhnmrgsversuche in Genua gefährde«». Anderseits soll nach den«
„Oeuvre" auch der französische Finanzminister auf die Frage der
Mitglieder der Reparationskommission geantwortet haben, es sei
bester, nichts zu überstürzen. Das „Oeuvre" ist der Ansicht, daß die
Reparationskommission eine ab wartende Haltung einneh-
men Wird. Die Kommission könne sich ja vis 31. Mai vertagen.
Bis zu diesem Zeitpunkt könne Deutschland ja Zeit gelaßen wer-
den, um die Budgetmaßnahmen zu treffen und bis zn diesem
Zeitpunkt sei zu hoffen, daß die Konferenz von Genua einen Nur-
schwung herveigesührt habe.
Der „Matin" sagt, die Reparationskommissiot» habe ihre
Sitzung aus heute morgen vertagt. Man habe immer mehr den
Eindruck, daß die Kommission entschlossen ist, nicht sofort auf die
deutsche Note zu replizieren, denn man wolle vermeiden, die deut-
sche Antwort den Ententeregierungen nach Genua zn übermitteln,
dem» das wäre ja gerade, was die Deutschen wollten, daß nämlich
in Genua die Reparationsfrage aufgeworfen würde. Wahrscheinlich
würde die ReparattonskommMon ihre Replik so lauge als möglich
hinziehen und vorderhand von der Reichsregicrung ergänzende
Mitteilungen verlangen, die die Reparationskommission in die
Lage versetzen, nicht sofort die Sanktionen, die sie bereits für nötig
hielt, vorzuschlagen. Es sei auch möglich, daß die Reparations-
kommission sich an ihre eigene Note vorn 21. März halte, vor» der
deutsche«, Antwort einfach Kenntnis nehme und bis 31. Mai warte.
Außerdem komme in Betracht, daß die Reparationskommission in
ihrer letzten Session das bekannte Gtudienkomitee für die deutsche
Reparationsanleihe eingesetzt habe. Aus diesem Kommentar des
„Matin" kann herausgelesen werden, daß die französischen Dele-
gierten in der Reparationskommission offenbar sofort scharfe Sank-
tionen vorgeschlagen haben, dabei aber aus scharfen englischen
Widerstand gestoßen sind.
Wie soeben mitgsteilt wird, Hat die Reparationskommission
gestern endgültig beschlossen, die Angelegenheit bis zum
31. Mai ruhenzu lassen, vorausgesetzt, daß Deutschland die
in diesen» Zeitraum sättigen beiden Raten von 18 Millionen am
18. April und 80 Millionen an» 18. Mai pünktlich entrichtet.
Noch Zein Schiedsspruch in Genf.
Berkin, 13. April. Wie die Telegraphen-Union von zuver-
lässiger Seite erfährt, war in Genf von Calonder vis Mitter-
nacht noch kein Schiedsspruch gefällt worden. Die Par-
teien verhandelten noch in der Nacht weiter,
Die Parisi zwar — aber ..
Zu der schwaukenden Politik, wie sie sich die Volkspartek
neuerdings wiederum in der Frage des Vertrauensvotums für
Wirths Erfüllungspolitik zuschulden kommen ließ, schreibt Her-
mann Wendel in der „Glocke": „Wer gar bedenkt, daß dieser
Partei bei den letzte»» Reichsiagswahlen dreieinhalb Millionen
erwachsener Deutscher zugelaufen sind, ivivd von leichtem Grauen
gepackt und beginnt an der Zukunft seines Volkes zu verzweifeln.
Ncber zwei Menschenalter haben die Nationalliberalen kein Mittel
unversucht gelassen, um ihr anfängliches Ansehen gründlich zu
verwirtschaften. Als sie wirklich nach 1871 als „Partei der Reichs-
gründling" Massen hinter sich hatten und im Parlament mit mehr
als 170 Abgeordneten auftrumpfen konnten, ließen sie sich dennoch,
weil sie schon damals nicht den Mut zu ihrer eigenen Courage
sanden, von Bismarck an die Wand drücken, daß sie quietschten.
Nachher schrumpften sie beträchtlich ein, aber ob ihre Zahl zu groß
oder klein war, sie bildeten die Methode, „in vollern Maße" etwas
zu „würdigen" und dann das'Gegenteil Zu tun, fast zu einer Kunst
aus. Wie dereinst Bennigsen'ein ganzes Schock guter Gründe
gegei» das Sozialistengesetz beibrachte, und wenige Monate später
die Nationalliberalen gleichwohl für das Gesetz stimmten, entschied
sich bei der Beratung der Zuchthausvorlage die Hälfte ihrer Abge-
ordneten dafür, aber immerhin die andere Hälfte dagegen, und in
gar mancher entscheidenden Frage ging es jetzt so, daß die national-
liberale Fraktion nur irr entmaterialisiertem Zustand, als Astral-
leib, im Parlament anwesend war, da sie sich bei der Abstimmung
durch Spaltung irr eine ja- und eine neinfagende Hälfte aus dem
Reich der Körperlichkeit ausschaltete.
All unser historisches Elend vor» Jahrhunderten bricht in der
ehemals natwnaMSeralen, jetzt Deutschen BoWpartei wie in einem
Grschnür aus. Dieses Bürgertum, das nie aufrechten
Vürgersinn besaß, das mit abgezogenem Käppchen, am
Straßenrand ausgepflanzt, allerehrerbietigst den Leibrutscher von
Serenissimus vorüberfahren sah und das der Potsdamer Wacht-
Parade mit glänzende» Beinei» und roten Bäckchen folgte, eil» Ge-
schlecht von Hofbäckermeistern und Hoffchornsteinsegern mit
ihrcu-Söhnen, die Kgl. Kanzleiräte und Kriegervereinsprüstdettten
wurden, und deren Söhnen, die es zu Gymnasialprofessoren und
Amtsrichter» und Oberleutnants der Laudivehr brachten, dieses
ganze Geklump ist es, das den volksparteilichen Aufsichtsrats- und
Machtpolftiker» an der Spitze die willig nachtravende Gefolgschaft
liefert.
Ob nach der Revolution die Nationalliberalen auch ihr Fir-
menschild geändert haben, haltlos zwischen Zwar und Aber hin-
»ind hertorkelnd sind sie die alten geblieben. Beim Kapp-Putsch
verlangte die Volkspartei zwar die schnelle Ueberleitung in einen
neuen gesetzmäßigen Zustand, schob aber der rechtmäßigen Negie-
rung die Verantwortung für den Streich der Rechtsbolschewisten
zu; »rach der Meuchelung Erzbergers erhob sie zwar „grundsätz-
lich" gegen die Verhängung des Ausnahmezustandes keinen Wider-
spruch, lenkte aber die Aufmerksamkeit von den schuldigen Ncttional-
uukeu auf die Kommunisten ab. Angesichts des Londoner Ulti-
matums erklärte — Respekt! — Herr Stresemann englischen Diplo-
maten seine Neigung zur Annahme der Entenkeforderungen, kam
aber kurz darauf mitsamt seiner Fraktion zur bündiger» Ableh-
nung, und ans dem Parteitag in Stuttgart nannte derselbe durch-
aus napoleonische Kopf eine rein bürgerliche Regierung zwar »richt
wünschenswert, betonte aber die Bereitwilligkeit seiner Partei,
wenn es denn nicht anders sei, zu einer Politik des Rechtsblocks.
Und so wird sich das Geschaukel zwischen Zwar und Aber ohne
Grazie i»S Endlose wiederholen, denn dieser Gruppe fehlt, obwohl
ihre Magnetnadel stäudig »rach der Sicherung des Besitzes und
dem Schub des Kapitals weist, im einzelne« jede pupillarische
Sicherheit, weil sie trotz ihres Namens nicht das deutsche Volk,
sondern nur den unmündigen Teil des deutschen Bürgertums, d e n
ewiger» Untertanen, vertritt. Mit dieser Gesellschaft ist
keine Politik zu machen! .
Ganz vor» selbst dreht sich bei dieser Erkenntnis das Gesicht
rmch links, wo die Unabhängigen in einem etwas heftigen
Selbstverständigungsprozeß begriffen sind. Was sich im Nachbar-
lager augenblicklich vollzieht, ist gewiß für die Aus sichle» der inne-
ren Politik ebenso unerfreulich wie die jüngste Note der Re-
parationskommission für die Entwicklung der auswärtigen Poli-
tik; das eine dient nicht den» bitter notwendigen Zusammenschluß
der Arbeiterklasse und das andere »richt der wahren Befriedigung
Europas. Aber ein schlechter Politiker, der die Flinte ins Korn
wirft, weil ihr» nicht die gebratenen Tauben sofort in den Mund
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Heidelberg, Donnerstag, 13. April 1922
Nr. 88 * 4. Jahrgang
Verantwort!.: Für innere u. äußere Politik, Volkswirtschaft «.Feuilleton:
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Das russische Problem.
Der Vorschlag der alliierten Sachverständigen.
Nach dem Beschluß vom Montag sollte heute Donners-
tag vormittag )411 Uhr die Unterkommission der politischen
Kommission in Genua zusammentreten, um das russische Problem
aus der Grundlage der Londoner Denkschrift aufzurollen. Nach
den heute morgen vorliegenden Meldungen ist eine wettere
Verschiebung dieser Sitzung auf Wunsch der russischen Dele-
gation nicht ausgeschlossen, lieber die grundsätzlichen Probleme,
um die es sich in der Stellungnahme zu dieser Denkschrift handelt,
telegraphiert der Sonderberichterstatter der „Franks. Ztg.":
Der wesentliche Inhalt dieser Vorschläge ist seinerzeit, in der
englischen Presse angegeben worden. Es handelt sich einmal um
die Anerkennung der Kriegsschuld und der ausländischen privaten,
durch die Staatsumwälzung in Rußland zugefügten Schäden,
für die voller Ersatz geleistet werden soll. Es handelt sich zum
anderen um die Sicherung künftiger Staatslrrdite und privater
Unternehmungen in Rußland, ohne die eine Teilnahme des aus-
ländischen Kapitals an der Wiederaufrichtung Rußlands unmög-
lich ist. Die Vorschläge der alliierten Experten hierfür gehen zum
Teil ganz außerordentlich weit. Für die neue Obligation,
die zum Ersatz der bezeichneten Verpflichtungen geschaffen werden
soll und für die Zinsfundierung und Amortisterungsaufschub bis
1927 vorgesehen ist, soll eine Schnldenverwaltungskont -
Mission eingesetzt werden, die mit einer „Oette pudiigue" ver-
zweifelte Aeynlichkeit hat, besonders wenn ihr nach dem Plan
eines Teiles der alliierten Sachverständigen sogar das Recht ge-
geben werden soll, einen bestimmte» Teil der russischen Staats-
einnahmen für den Dienst dieser Obligation zu' reservieren lind
zum Einzug zu bringen. Ebenso gehen die Vorschläge für die
Nchgestaltung des russische» Rechts gegenüber den Ausländern
zum Teil ungeheuer weit, wenn sie z. B. in Aussicht nehmen, daß
Verhaftungen von Ausländern nicht ohne Beistand oder Zustim-
mung ihres Konsuls erfolgen dürseir, daß im Falle der Verurtei-
lung wegen eines kriminellen Deliktes das Urteil nur mit Zustim-
mung ihres Konsuls solle vollstreckt werden dürfen, und daß
wegen politischer Delikte nur auf Ausweisung erkannt werden
dürfe. Bei alledem ist aber zu betonen, daß die alliierten Sach-
verständigen selbst nicht in allem einig waren und daß die
alliierten Regierungen sich nicht an diese Vorschläge ihrer Sach-
verständigen gebunden haben. Sie können in ihren Forderun-
gen dahinter Zurückbleiben, allerdings morgen auch darüber hinaus-
gehen. Was Rußlands Haltung betrifft, so besteht triftiger Grund
für die Annahme, daß die russische Delegation sachgemäßen Forde-
rungen zustimmen werde, weil ja ihr Interesse an dem Einströmen
fremden Kapitals und an der Wiederverknüpfung mit der Welt-
wirtschaft sehr dringend ist, und das; sie sich darüber hinausgehen-
dc» Forderungen widersetzen wird, doch mit denk Bestreben, es
möglichst morgen nicht zum Bruch kommen zu lassen.
Was die Schulden angeht, so heißt es, daß die Russen die
Streichung der Kriegsschulden u. die Anrechnung der von Wränget
und Denikin angerichteten Schäden aus die Vorkriegsschülden for-
dern wollen. Daß in bezug auf die Alliiertenforderungen Rußland
nicht Beding,tilgen unterworfen werde, die es zu einer neuen
Türkei machen würden, ist dabei sicherlich auch deutsches Interesse,
schon weil gegen manches, was Rußland ablehnen dürfte, auch »vir
selbst uns gegenüber dm Zumutungen der Rcpnrationskommissio»
zur Wehr zu setzen haben.
Die französische Schlappe in der Finanz-
kommission.
Genua, 12. April. In der Finanz komm ission gab
es genau solche Zwischensätze wie bei der Bildung der vdrbereitcn-
den politischen Unterkommission unter Schanzers Vorsitz, in der es
zu einer japanischen Warnung und einem offiziellen rumänischen
Protest gegen Rußland kam. Vor allem scheint sich der fran-
zösisch-russische Kleinkrieg sortsetze» zu wollen. Im
Finanzausschuß spielten sich die Temperamentszenen zwischen dem
Franzosen Picard und dem Ukrainer Rakowskiab. Schließ-
lich gelang die Bildung der finanziellen Unterkommission, nachdem
Sir Robert H orne einen Antrag der Franzosen, die Russen und
die Deutsche» aus der Unterkommission auszuschließen, durch ge-
schickte Geschäftsführung zu Fall gebracht hatte. Finanzminister
Hermes, der sich wiederholt an der Aussprache in französischer
und englischer Sprache beteiligte, und ebenso Dr. Rathdnau
erwiesen sich hierbei als sehr scharfdenkende und wirksame Anwälte
des berechtigten deutschen Standpunktes. Picard kam nach der
Sitzung aus Hermes zu und versicherte ihm, daß er feinen geschei-
terten Antrag bezüglich der Besetzung der Unterkommission nicht
gegen Deutschland, sondern nur gegen Rußlands Beteiligung rich-
ten wollte. An der Wirtschaftskommission, in derSehdoux den
Vorsitz führt, werden von deutscher Seite die Herren Krämer,
Baltrus ch, Kreuter und Bergmann neben dem Minister
Schmidt teilnehmen. Auch diese Kommission wird 11 Stimm-
berechtigte enthalten und auch ihre Verhandlungen werden zunächst
insofern nicht vertraulich sein, als auch sie nach jeder Sitzung einen
amtlichen Bericht ausgeben wird.
Der Zusammentritt der Wirtschaftskommission.
Genua, 12. April. Heute vormittag 10 Uhr hat die Sitzung
der Kommission für Wirtfchastsfragen flattgefunden, für
die als Delegierte Rat Henau und Roichswirtschastsminister
Schmidt, als stellvertretende Delegierte die Staats sokretäre v.
Sim so» und Hirsch benannt sind. Die Sitzung wurde in
Vertretung des. -italienischen HMdSlsnsimsters von dem italieni-
schen Delegierten Olivetti eröffnet, der ans die Notwendigkeit
der Zusammenarbeit Mer Nationen, das freie Spiel der Kräfte
nnd die beste Ausnützung der natürlichen Reichtümer lhinwies.
Olivetti schlug vor, als Vorsitzenden den Franzosen Colrat
und -als dessen Vertreter SeyDoux zu wählen. Die englische
und bergische Delegation schlossen sich diesem Vorschlag an. Eolrat
übernahm den Vorsitz und schlug in gleicher Weise wie für die
erste und zweite Kommission auch eine Unterkoni-mifsion für Wirt-
schafts- und Verkehrsfragen der österreichischen Nachfolgestaaten
vor. Der tschechoslowakische Vertreter widersprach diesem Antrag,
-ebenso Polen, welches Unlerkommissionen nach Materien vorschlug.
Der Vorsitzende legte Polen nahe, diesen Antrag zurückznzi-e-
lhen. Die Ernennung von weiteren Untekkonrmisstonen nach Ma-
terien könne Vorbehalten bleiben, bis -die jetzt zu errichtende Urtter-
kom-misston die Tagesordnung und VerhanNungKgoaenstände fest-
gestellt habe. Auf eine von Holland eingebrachte und von
Norwegen und schließlich von England müerstützte An-
regung, den kleinen Staaten in dieser Kommission mehr als vier
Vertreter zu geben, wurde beschlossen, daß die kleinen- Staaten
fünf Vertreter -haben sollen.
Nach Unterbrechung der Sitzung wurden als Vertreter der
kleinen Staaten fünf Angehörige -der Staaten Norwegen, Schweiz,
Holland, Jugoslawien und Lettland ernannt. Die Unterkommis-
sion wird am Samstag vonnfttag 10^ Uhr zu ihrer ersten Sitzung
zusammen,treten.
Die Ueberrctchung der deutschen Denkschrift.
Genua, 12. April. In der Heutigen Sitzung der Wirt-
schaftskommission haben die Deutschen Delegier-
ten die große deutsche Denkschrift überreicht. Wie ver-
lautet, enthält diese Denkschrift nach Darlegung der Wirtschafts-
lage Deutschlands einen Vorschlag, eine interuat io » ale An-
leihe im Namen Deutschlands mit -G-onchmigung der Entente-
mächte aufzulegen.
Me N e pa r a t i o n s ko m m -i s s i o n Hat den in Genua ver-
sammelten Ententemächten «ine statistische Aufstellung über
Deutschlands Z-ahlungspflichten und die bisher er-
folgten deutschen Zahlungen übermittelt.
Die deutsche» Kommissionsmitglieder
In die einzelnen Ausschüsse sind folgende -deutsche
Herren entsandt worden:
1. Ausschuß (für Rußland): Vorsitzender: v. Ma st-
rähn; Sachverständige: BErusch, Bernhard, Bücher, Cunow,
H »lfferd i n g, Melchior, von Raumer und W i s s e l l.
2. Ausschuß (Finanzfragen): Vorsitzender Schrö-
der; Sachverständige: Bergmann, Bernhard, Erkelenz, von Haverv-
stetzn, Htlfserding, Hagen, Melchior, von Mendelssohn; Ref.:
Dorn, Norden und Nordhoff.
3. Ausschuß (Wirtschaftsfragen): Bors. Hirsch;
stellvertr. Bors.: Weigert; Sachvstge.: Baltrufch, Bücher» Erkelenz,
Hage», H ue, Kostenberg, Krämer, Kreuter, Lübsen, v. Mendels-
sohn, v. Raumer und Wissell; Referenten: Berger u. Löwe.
4. Ausschuß (Verkehrs fragen): Vorsitzender: Skie-
le r; Sachverständige: Bücher, Cunow, Hu6, Lübsen und Krämer.
Hue schwer erkrankt.
Berlin, 13. April. Reichstagsabgeovdueter und Arveiter-
sührersührer Otto H u S ist an einer Lungenentzündung schwer
erkrankt. Da Huö Mitglied der deutschen Delegation für Genna
ist, wird bei seiner Erkrankung die Ernennung eines anderen Ver-
treters für die Delegation notwendig.
Die ReparationSkommisston und die deutsche
Antwort.
Scharfer französisch-englischer Meinungskampf.
Paris, 12. April. Das „Oeuvre" meldet, der englische
Vertreter in der Reparattouskommission, Sir Robert Brad-
ls u ry, habe in der Sitzung der Reparationskommission daraus yin-
gewiesen, daß esgefährlich und unzweü m ä tzig wäre, wenn
die Kommission von den Ententeregierungen Sanktionen gegen
Deutschland verlange. Damit würde die Reparationskommission
gewissermaßen abdanken und außerdem unfehlbar die Ber-
söhnmrgsversuche in Genua gefährde«». Anderseits soll nach den«
„Oeuvre" auch der französische Finanzminister auf die Frage der
Mitglieder der Reparationskommission geantwortet haben, es sei
bester, nichts zu überstürzen. Das „Oeuvre" ist der Ansicht, daß die
Reparationskommission eine ab wartende Haltung einneh-
men Wird. Die Kommission könne sich ja vis 31. Mai vertagen.
Bis zu diesem Zeitpunkt könne Deutschland ja Zeit gelaßen wer-
den, um die Budgetmaßnahmen zu treffen und bis zn diesem
Zeitpunkt sei zu hoffen, daß die Konferenz von Genua einen Nur-
schwung herveigesührt habe.
Der „Matin" sagt, die Reparationskommissiot» habe ihre
Sitzung aus heute morgen vertagt. Man habe immer mehr den
Eindruck, daß die Kommission entschlossen ist, nicht sofort auf die
deutsche Note zu replizieren, denn man wolle vermeiden, die deut-
sche Antwort den Ententeregierungen nach Genua zn übermitteln,
dem» das wäre ja gerade, was die Deutschen wollten, daß nämlich
in Genua die Reparationsfrage aufgeworfen würde. Wahrscheinlich
würde die ReparattonskommMon ihre Replik so lauge als möglich
hinziehen und vorderhand von der Reichsregicrung ergänzende
Mitteilungen verlangen, die die Reparationskommission in die
Lage versetzen, nicht sofort die Sanktionen, die sie bereits für nötig
hielt, vorzuschlagen. Es sei auch möglich, daß die Reparations-
kommission sich an ihre eigene Note vorn 21. März halte, vor» der
deutsche«, Antwort einfach Kenntnis nehme und bis 31. Mai warte.
Außerdem komme in Betracht, daß die Reparationskommission in
ihrer letzten Session das bekannte Gtudienkomitee für die deutsche
Reparationsanleihe eingesetzt habe. Aus diesem Kommentar des
„Matin" kann herausgelesen werden, daß die französischen Dele-
gierten in der Reparationskommission offenbar sofort scharfe Sank-
tionen vorgeschlagen haben, dabei aber aus scharfen englischen
Widerstand gestoßen sind.
Wie soeben mitgsteilt wird, Hat die Reparationskommission
gestern endgültig beschlossen, die Angelegenheit bis zum
31. Mai ruhenzu lassen, vorausgesetzt, daß Deutschland die
in diesen» Zeitraum sättigen beiden Raten von 18 Millionen am
18. April und 80 Millionen an» 18. Mai pünktlich entrichtet.
Noch Zein Schiedsspruch in Genf.
Berkin, 13. April. Wie die Telegraphen-Union von zuver-
lässiger Seite erfährt, war in Genf von Calonder vis Mitter-
nacht noch kein Schiedsspruch gefällt worden. Die Par-
teien verhandelten noch in der Nacht weiter,
Die Parisi zwar — aber ..
Zu der schwaukenden Politik, wie sie sich die Volkspartek
neuerdings wiederum in der Frage des Vertrauensvotums für
Wirths Erfüllungspolitik zuschulden kommen ließ, schreibt Her-
mann Wendel in der „Glocke": „Wer gar bedenkt, daß dieser
Partei bei den letzte»» Reichsiagswahlen dreieinhalb Millionen
erwachsener Deutscher zugelaufen sind, ivivd von leichtem Grauen
gepackt und beginnt an der Zukunft seines Volkes zu verzweifeln.
Ncber zwei Menschenalter haben die Nationalliberalen kein Mittel
unversucht gelassen, um ihr anfängliches Ansehen gründlich zu
verwirtschaften. Als sie wirklich nach 1871 als „Partei der Reichs-
gründling" Massen hinter sich hatten und im Parlament mit mehr
als 170 Abgeordneten auftrumpfen konnten, ließen sie sich dennoch,
weil sie schon damals nicht den Mut zu ihrer eigenen Courage
sanden, von Bismarck an die Wand drücken, daß sie quietschten.
Nachher schrumpften sie beträchtlich ein, aber ob ihre Zahl zu groß
oder klein war, sie bildeten die Methode, „in vollern Maße" etwas
zu „würdigen" und dann das'Gegenteil Zu tun, fast zu einer Kunst
aus. Wie dereinst Bennigsen'ein ganzes Schock guter Gründe
gegei» das Sozialistengesetz beibrachte, und wenige Monate später
die Nationalliberalen gleichwohl für das Gesetz stimmten, entschied
sich bei der Beratung der Zuchthausvorlage die Hälfte ihrer Abge-
ordneten dafür, aber immerhin die andere Hälfte dagegen, und in
gar mancher entscheidenden Frage ging es jetzt so, daß die national-
liberale Fraktion nur irr entmaterialisiertem Zustand, als Astral-
leib, im Parlament anwesend war, da sie sich bei der Abstimmung
durch Spaltung irr eine ja- und eine neinfagende Hälfte aus dem
Reich der Körperlichkeit ausschaltete.
All unser historisches Elend vor» Jahrhunderten bricht in der
ehemals natwnaMSeralen, jetzt Deutschen BoWpartei wie in einem
Grschnür aus. Dieses Bürgertum, das nie aufrechten
Vürgersinn besaß, das mit abgezogenem Käppchen, am
Straßenrand ausgepflanzt, allerehrerbietigst den Leibrutscher von
Serenissimus vorüberfahren sah und das der Potsdamer Wacht-
Parade mit glänzende» Beinei» und roten Bäckchen folgte, eil» Ge-
schlecht von Hofbäckermeistern und Hoffchornsteinsegern mit
ihrcu-Söhnen, die Kgl. Kanzleiräte und Kriegervereinsprüstdettten
wurden, und deren Söhnen, die es zu Gymnasialprofessoren und
Amtsrichter» und Oberleutnants der Laudivehr brachten, dieses
ganze Geklump ist es, das den volksparteilichen Aufsichtsrats- und
Machtpolftiker» an der Spitze die willig nachtravende Gefolgschaft
liefert.
Ob nach der Revolution die Nationalliberalen auch ihr Fir-
menschild geändert haben, haltlos zwischen Zwar und Aber hin-
»ind hertorkelnd sind sie die alten geblieben. Beim Kapp-Putsch
verlangte die Volkspartei zwar die schnelle Ueberleitung in einen
neuen gesetzmäßigen Zustand, schob aber der rechtmäßigen Negie-
rung die Verantwortung für den Streich der Rechtsbolschewisten
zu; »rach der Meuchelung Erzbergers erhob sie zwar „grundsätz-
lich" gegen die Verhängung des Ausnahmezustandes keinen Wider-
spruch, lenkte aber die Aufmerksamkeit von den schuldigen Ncttional-
uukeu auf die Kommunisten ab. Angesichts des Londoner Ulti-
matums erklärte — Respekt! — Herr Stresemann englischen Diplo-
maten seine Neigung zur Annahme der Entenkeforderungen, kam
aber kurz darauf mitsamt seiner Fraktion zur bündiger» Ableh-
nung, und ans dem Parteitag in Stuttgart nannte derselbe durch-
aus napoleonische Kopf eine rein bürgerliche Regierung zwar »richt
wünschenswert, betonte aber die Bereitwilligkeit seiner Partei,
wenn es denn nicht anders sei, zu einer Politik des Rechtsblocks.
Und so wird sich das Geschaukel zwischen Zwar und Aber ohne
Grazie i»S Endlose wiederholen, denn dieser Gruppe fehlt, obwohl
ihre Magnetnadel stäudig »rach der Sicherung des Besitzes und
dem Schub des Kapitals weist, im einzelne« jede pupillarische
Sicherheit, weil sie trotz ihres Namens nicht das deutsche Volk,
sondern nur den unmündigen Teil des deutschen Bürgertums, d e n
ewiger» Untertanen, vertritt. Mit dieser Gesellschaft ist
keine Politik zu machen! .
Ganz vor» selbst dreht sich bei dieser Erkenntnis das Gesicht
rmch links, wo die Unabhängigen in einem etwas heftigen
Selbstverständigungsprozeß begriffen sind. Was sich im Nachbar-
lager augenblicklich vollzieht, ist gewiß für die Aus sichle» der inne-
ren Politik ebenso unerfreulich wie die jüngste Note der Re-
parationskommission für die Entwicklung der auswärtigen Poli-
tik; das eine dient nicht den» bitter notwendigen Zusammenschluß
der Arbeiterklasse und das andere »richt der wahren Befriedigung
Europas. Aber ein schlechter Politiker, der die Flinte ins Korn
wirft, weil ihr» nicht die gebratenen Tauben sofort in den Mund