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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,2.1902

DOI Heft:
Heft 14 (2. Aprilheft 1902)
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Erdmann, Karl Otto: Sprechsaal: noch einmal: "Tendenzpoesie"
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https://doi.org/10.11588/diglit.8191#0091

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richtiger, daß sie von Kritikern und Künstlern immer wiederholt
werden.' Jn dieser Hinsicht kann ich also Bonus nur durchaus zu-
stimmen. *

Nun hat er aber einige Sätze von mir angeführt, die mit dieser
Auffassung in Widerspruch stehen sollen. Die fraglichen Sätze stammen
aus einem Aufsatze^über die Verwertung der Suggestion in der Dicht-
kunst, in dem jene Sorte von Kunstwerken, die ganz außerhalb
der ä st h e t i s ch e n Illusion st e h e n d e Gefühle zu erwecken
suchen, beiläusig als Sensations- und Tendenzwerke charaktcrisiert und
verworfen werden. Jch bemerke, daß ich auf die gebrauchtc Terminologie
kein Gewicht lege, daß ich sie auch keineswegs für erschöpfend halte;
datz ich aber an der Sache, an der Beurteilung der fraglichen Poesie
durchaus sesthalte.

Der strittige Punkt ist einfach der: Bonus glaubt, ich wolle über-
haupt dem Künstler verwehren, „reale" Gefühle wie: sinnliche Erregungen
oder religiöse Empfindungen zu erwecken; ich aber lehne diese Gefühle
nur dann ab, wenn sie außerhalb der ästhetischen Jllu-
sion stehen und insofern „reale" find. Jch mache also ausdrück-
lich die Voraussetzung, daß die fingierte Nealität des Kunstwerks fich
von der Wirklichkeit des Beschauers unterscheidet. Diese Voraussetzung
trifft aber in den von Bonus angezogenen Beispielen, die gegen mich
zeugen sollen, gar nicht zu. Wie bei einem Vaterlandsliede patriotische
Begcisterung, wie bei einem Huldigungspoöm auf Bismarck die Ver-
ehrung zu diesem Mann „außerhalb der ästhetischen Jllusion stehende
Gefühle" genannt werden können, ist mir unverständlich. Es liegt also
auch kein Grund vor, dicse Werke zu üeanstanden, wenigstens nicht aus
den von mir angegebenen Grundsätzen heraus.

Ganz anders verhält es sich aber etwa bei jenem Stück von Philippi,
in dem die Konflikte eincs adligen Besitzers industrieller Werke mit seinem
Generaldirektor dargestellt werden. Hier wird durch offenkundige An-
spielungen der ganze Gefühlskomplex angeregt, der seinerzeit das
deutsche Volk bei der Entlassung des Fürsten Bismarck bewegte. Und
nicht das Spiel der Gefühle, die sich aus der Situation und den
Charakteren des Stückcs, d. h. aus der künstlerischcn Jllusion ergeben, be-
wirkt unsere stärkere Anteilnahme: die Beziehungen zur Wirklichkeit, zum
politischen Klatsch des Tages setzen den Hebel für eine wohlfeile Wir-
kung in Bewegung. Ob es berechtigt ist, Werke dicser Art schlecht-
hin Sensations- oder Tendenzwerke zu nennen, das ist — wie ge-
sagt — eine nebensächliche Wortfrage; die Behauptung ihrer künstlerischen
Minderwcrtigkeit und die dafür gegebene Begründung aber muß ich auf-
recht erhalten. Aarl Otto Lrdmann.
 
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