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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,2.1902

DOI Heft:
Heft 24 (2. Septemberheft 1902)
DOI Artikel:
Platzhoff-Lejeune, Eduard: Die Literatur-Waisen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8191#0574

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nach seinem Tode um den letzten Papierfetzen zanken werden, bleibt
modern und wird auf der Bühne des Lebens alljährlich gespielt.

Und der Höhepunkt ist noch nicht erreicht. Es gibt eine genealo-
gische Kombinatiou, nach der man sein eigener Großvater werden kann.
Nun denn, ich kenne Fälle, wo, figürlich wenigstens, einer sich zu seinem
eigenen „Waisen" gemacht hat. Daran sind die besseren Zeiten schuldig.
Früher kam es kaum vor, daß ein Denker oder Dichter andcrs als vom
Himmel herab der Drucklegung seiner gesammelten Werke zuschauen
kounte. Heute finden sich denn doch schon ein paar findige Verleger,
die am siebzigsten oder gar schon am sechzigsten Geburtstag eine An-
frage daraufhin an den Jubilar richten. Der Mann darf sich also selbst
herausgeben. Schön so, wenn er noch bei voller Geistesstärke ist. Leider
aber steht er nun in einem Alter, wo ihm die späte Anerkennung manch-
mal zu Kopfe steigt und er über das Wesentliche und Unwesentliche in
seinem Schaffen keine rechte Vorstellung mehr hat. So wird er denn
an seinem Lebensabend zu seiner eigenen Waise und trügt aus Zeitungen
und offenen Briefen, Erklärungen, Gedichten und Protesten alles zu-
sammen, was im Augenblick des Erscheinens vielleicht wenige, nach
zwanzig Jahren beim Wiederabdruck aber sicher niemanden interessiert.
Gewitz, die Versuchung ist ja groß, die sümtlichen Werke durch Einfügung
einigen Füllsels stattlicher erscheinen zu lassen — wie wenige auch nur
unter den essaisammelnden Journalisten entgehen ihr! — aber in unserer
hastigen und vielbeschäftigten Zeit lenkt man durch Häufung des Materials
gar zu leicht die Teilnahme auf das Nebensächliche ab — und wozu
sammelt man dann noch die guten Aufsätze?

Gegen diese Altersschwäche grotzer Männcr, die auf der Höhe ihres
Nuhmes nun einfach alles sie betreffende sür unbedingt wichtig halten
und die Nachwelt mit möglichster Vollständigkeit über sie unterrichten
möchten, gibt es ein Mittel. Man thue dazu, datz ihre wirklichen grotzen
Leistungen bei Zeiten gewürdigt und datz ihnen so die Kämpfe er-
spart werden, die sie im Alter, wenn der Lorbeer erstritten ist, leicht
kleinlich, bitter und geschwätzig machen. Nur die Faulheit lobt oder
verdammt alles Neue, wcil es neu ist; Wohlwollen und Fleitz aber
sichten es und stufen Lob und Tadel sachkundig ab. Auch das Lob,
denn durch gedankenloses Jn-den-Himmel-heben wird ja genau so viel
Schaden angerichtet, wie durch kritiklos tadelndes Abthun. Schaden für
den unwürdig Gclobten und Schaden für den unwürdig Uebergangenen,
zu dessen Wertung kein matzvolles und anerkennendes Adjektiv mehr zur
Verfügung steht.

Gegen die anderen Literaturwaisen, die Kleinkrämer, Parasiten und
Waschfrauen der Schriftstellerwelt gibt es auch ein Mittel: ihr stilloses
und dürftiges Gerede als das zu bezeichnen, was es ist, ohne sich von
den grotzen Namen bange machen zu lassen, die sie vor sich hertragen.

Lduard Hlatzboff-Lejeune.

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2. Septemberheft ^902
 
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