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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 2.1913/​1914

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Heft 5
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Delle Grazie, Marie Eugenie: Frau Gertys Saison
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https://doi.org/10.11588/diglit.66819#0110

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im nächſten Morgen ſtieg Frau
gc Gerty wieder die vier Treppen
zu dem Kranken empor.

Ö „Heute werden gnädige Frau
15 erwartet,“ rief ihr die beredte Witwe
entgegen.

„Sie haben geplauſcht?“

„Behüte! Aber als die Gnädige hinaus-
gingen, gerade im ſelben Augenblick, muß
er erwacht ſein. Denn als ich zurückkam,
ſaß er im Bett und machte große, glück-
ſelige Augen. Wer iſt jetzt mit Ihnen
hiuausgegangen, Frau Grützner?“ Erſt
wollt' ich mich aufs Leugnen verlegen, weil
mir die Gnädige Frau das Verſprechen
abgenommen hatte. Aber da lachte er mir
ſo eigen ins Geſicht. Glauben Sie, daß
man ſolche Haare vergißt, wenn man ſie
einmal geſehen hat? Das ſind Mutter-
gotteshaare.“ — Dann hab' ich ihm alles
erzählen müſſen, haarklein.“

„Und er?“ fragte Frau Gerty atemlos.

„Die Augen ſind ihm immer größer ge-
worden. Und zuletzt hat er die Hände ge-
faltet und geſagt: „Wie ſchön, daß wenig-
ſtens ein Traum in Erfüllung geht.““

„Führen Sie mich hinein,“ bat Frau
Gerty leiſe. Ihr Herz begann plötzlich
ganz eigen zu pochen. Wie eine große,
fremde, heilige Scheu kam es über ſie. Seit
ihren Mädchenjahren war ihr das nicht
wieder begegnet. ;

Dann ging die Türe auf. Die Winter-
ſonne ſtand hinter den vereiſten Scheiben,
und einer ihrer rotgoldenen Strahlen hatte
bis an das arme Lager gefunden. War
es ſein Geleucht, das dem Antlitz des
Kranken dieſe ſeltſame Schönheit lieh?

Von den blanken Kiſſen geſtützt, ſaß er
aufrecht im Bett, die dunkelbraunen Haare
hingen lang und feucht um die Stirne.
Und wie ſchmal und durchſichtig waren
ſeine Hände! Als ſie näher kam, machte
er einen Verſuch, ſich ganz aufzuſetzen.

„Strengen Sie ſich nicht an,“ rief Frau
Gerty. „Um Gottes willen nicht.“

Faſt erſchrak ſie über den Ton ihrer ei-

genen Stimme. So viel unbeherrſchte
Angſt brach daraus hervor. Wenn er die
Frauen nur ein bißchen kannte, dann wußte
er ja ſofort — Aber nein, er kannte ſie nicht.
Mit gefalteten Händen ſaß er da, bleich,
demütig, und ſah wie ein beſchenktes Kind
zu ihr empor. „Wie gut müſſen Sie
ſein!“ Dann ſchloß er die Augen; ſeine
Lippen begannen leiſe zu zucken.

„Wenn Sie ſich aufregen, geh' ich ſofort,“
drohte Frau Gerty.

Nun erſt bemerkte ſie, daß ſie in der
Freude, einen Geneſenden zu finden, ver-
geſſen hatte, das Körbchen mit den ein-
gemachten Früchten draußen abzugeben.
„Wie krieg' ich es nur los?' ſann ſie. „Er
empfindet ſo fein. —‘

Da kam ihr ein Gedanke. „Seh'n Sie
alſo ganz ab von mir,“ bat ſie. „Und
wollen Sie mir eine Freude machen, dann
denken Sie, daß jetzt Ihre Mutter an
Ihrem Bett ſitzt und Ihnen etwas mit-
gebracht hat — “ Sie fühlte, wie ſie errö-
tete, als ſein Blick in den ihren trat.
„Etwas, das Kinder und Kranke gerne
eſſen.“ Damit holte ſie eines der zierlichen
Gläſer hervor und hielt es ins Licht.

„Wie ſchön!“ ſtaunte der Kranke. „Aber
meine Mutter könnte mir das wohl nicht
ſchaffen!“ Und während ſie die rubinroten
Ananaserdbeeren mit der Rechten noch ins
Licht hielt, beugte er ſich plötzlich herab
und drückte einen zarten Kuß auf ihre
Linke. Wie erſchöpft ſank er dann zurück.

„Was tun Sie denn?“ ſtammelte Frau
Gerty befangen. Es war nur ein Hand-
kuß geweſen, kaum mehr als ein Hauch.
In ihr aber wallte es empor, heiß, drän-
gend, als hätte ſein Mund ihre Lippen be-
rührt.

„So alſo iſt es, dachte ſie, wenn man
von einem geliebten Mann geküßt wird —‘
Ihre Augen wurden feucht. Um ſich und
ihn zu ſchonen, ſprang ſie auf und ſtellte
das Körbchen auf den Tiſch.

„So,“ begann ſie zu plauſchen. „Hier
ſind Erdbeeren, Himbeeren, Weichſeln und
 
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