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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 2.1913/​1914

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Griechentum die Herrſchaft zu gewinnen ſuch-
ten. Auch die Bulgaren träumen alſo von
einer Wiederherſtellung des alten byzan-
tiniſch⸗ orthodoxen Reiches, aber nicht ein
griechiſcher, ſondern ein bulgariſcher Zar ſoll
dieſe Welt beherrſchen.

Den kühnen Traum hat das junge König-
reich ſchwer büßen müſſen. Denn längſt hat
ein dritter Rivale ſeinen ſtarken Arm nach
der Kaiſerkrone von Konſtantinopel aus-
geſtreckt: die große ſlawiſche Macht des
Nordens. Von Byzanz hat das ruſſiſche
Reich ſeine geiſtige Kultur erhalten, die ruſ-
ſiſche Kirche bewahrt getreu die Traditionen
der byzantiniſchen Orthodoxie. Der Zar
von Rußland iſt Cäſar und Papſt zugleich,
wie es die byzantiniſchen Kaiſer waren. Die
letzte Paläologin wurde nach dem Unter-
gang von Konſtantinopel die Gemahlin des
Zaren von Moskau, ſie brachte ihm die
Krone ihrer Ahnen: der kaiſerliche Doppel-
adler von Byzanz wurde das Wappen der
ruſſiſchen Zaren. Seit zwei Jahrhunderten
ſtrebt die orthodoxe Großmacht des Nordens
bewußt nach der Führung innerhalb der ge-
ſamten orthodoxen ehemals byzantiniſchen
Welt, träumt auch ſie von einer Herrſchaft
in der Wunderſtadt am Bosporus und
von einer Kaiſerkrönung in der Hagia
Sophia. So viele Schwankungen und Wech-
ſel auch die ruſſiſche Politik der letzten zwei
Jahrhunderte erfuhr, niemals hat ſie die-
ſes Ziel ganz aus dem Auge verloren, nie
auf die Verwirklichung verzichtet. Rußland
konnte nicht zugeben, daß jetzt der Zar der


der Gefolgſchaft der orthodoxen Vormacht
und in kühnem Siegeszuge den Einzug in

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die Mauern von Konſtantinopel erzwang;
deshalb fiel es ihm in den Arm und ver-
urteilte Bulgarien zur Ohnmacht.

So iſt der letzte Kampf noch nicht ent-
ſchieden. Zwei ſlawiſche Mächte und das
aufſtrebende Griechentum ringen um Byzanz.
Für Rußland iſt der Weg ſeit zwei Jahr-
hunderten vorgezeichnet, Bulgarien und Grie-
chenland ſtehen am Scheidewege. Beſonders
für Griechenland erhebt ſich nach ruhmvollen
Siegen, nach ſo gewaltiger Vergrößerung
ſeines Gebiets die ſchwere Frage: ſoll der
Staat verſuchen ſeine Entwicklung auszu-
bauen in Anlehnung an die modernen Staa-
ten Weſteuropas, ſoll er ſich freizumachen ſuchen
wie dieſe von der Herrſchaft der Kirche und
ſeine Kraft richten auf den Ausbau ſeiner
materiellen Kräfte im Dienſte freiheitlicher
abendländiſcher Entwicklung? Oder ſoll der
griechiſche Staat der „großen Idee“ folgen,
die mit ſo magiſcher Gewalt ihn nach der
Hagia Sophia zieht, ſoll er den Verſuch
wagen, ein neues byzantiniſch-orthodoxes
Reich aufzurichten, auf daß der Kaiſer und
der Patriarch wieder am Bosporus herr-
ſchen? Der junge König heißt Konſtantin
wie der apoſtelgleiche Gründer von Konſtan-
tinopel, wie der letzte byzantiniſche Kaiſer,
der den Heldentod ſtarb. Schon erſcheint ſo
vielen im griechiſchen Volk der Name als
ein Symbol. Aber der Kampf um Byzanz
wird nicht gegen die Türken allein geführt.
Es geht vielmehr um die Frage, ob in der
orthodoxen Welt von Oſteuropa Griechen-
tum oder Slawentum die Führung über-
nehmen wird. Dieſer große Kampf wird, aller
Wahrſcheinlichkeit nach, dereinſt ſeine Ent-
ſcheidung finden vor den Mauern von Byzanz.

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