Velhagen & Klasings Monatshefte (Band 28, 2.1913/1914)

leſſandro Bonvicino gen. Moretto
iſt neben Romanino und Savoldo
die hervorragendſte Künſtlerge-
2 ſtalt Breſcias. Er iſt 1498 geboren
und ſchon 1555, alſo 57jährig geſtorben.
Romanino hat ihm den Weg gebahnt, denn
er war dreizehn Jahre älter, aber von ganz
anderer Begabung, lebhaft im feurigen
Schwung, dem wallenden Pathos geneigt,
während unſer Maler durchaus Lyriker
iſt und in ſeinem edlen, geſammelten Stim-
mungsgehalt oft an die ſanften Melodien
der Umbrer erinnert. Innerhalb ſolcher
Grenzen erreicht Moretto das Höchſte,
die Ahnung und Schaubarkeit unendlicher
Mächte der Empfindung und der Über-
welt. Sein Stil zeigt
die Reife des voll-
entwickelten Cinque-
cento, freilich ohne die
Stoßkraft der Floren-
tiner Schule, aber
nicht ohne klare Ar-
chitektonik. Moretto
iſt durchaus Oberita-
liener, ein Schüler
Tizians, ein Maler
der Santa conversa-
zione reifen Stils;
Werte, die es ver-
ſtändlich machen, daß
dieſer Maler früh von
den Sammlern, na-
mentlich in England
und Schottland, be-
gehrt worden iſt, ſo
daß in Italien nur
Breſcia ſelbſt ihn noch
in würdiger Fülle und
Qualität vertritt.
Wir wiſſen wenig
über ſein Leben, und
das wenige hilft we-
nig zum Verſtändnis
ſeiner Kunſt. Seine
Malerei iſt nicht ein
perſönliches Bekennt-
nis, nur in der Ge-

ſamtſtimmung aller Werke liegt der Grund-
zug ſeiner Seele: geſammelte Andacht.
Sein Lehrer Ferramola iſt keine ſtärkere
Kraft geweſen; wichtiger iſt, daß der junge
Moretto — „Bräunling“ überſetzen wir
am beſten, wenn der Name nicht auf einen
mauriſchen Ahn wie bei Othello „il Moro“
anſpielen ſoll — zu Tizian kam und an
der Lagune jene entſcheidenden glücklichen
Jahre weiterlebte, als ſich die bis dahin
in Giovanni Bellinis klare Feſtigkeit ge-
bannte Kunſt durch Giorgione und Tizian
in die höhere Freiheit einer monumen-
taleren Richtung hatte herauftragen laſſen.
Es iſt die Zeit der „Aſſunta“, der, Madonna
von Peſaro“. Moretto lernte hier die große