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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 2.1913/​1914

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ür den Oſterſonntag war die
Puppenfamilie in das elterliche
Wohnzimmer übergeſiedelt, an
deſſen Hinterwand der Flügel
ſtand. Im länglichen Raum zwiſchen ſei-
nen Fußgeſtellen brachte Seelchen bequem
das ganze Quartier — Eßſtube, Schlaf-
ſtube und Küche — unter, und leicht konnte
man einſehen, warum gerade dort, denn
nur dank dem Flügel erſtreckte ſich über
dieſe großen Puppenſtuben dasjenige, was
ſonſt nur die kleinen auszuzeichnen pflegt,
nämlich eine Zimmerdecke. Sogar hing,
blaugläſern, ein Hängelämpchen von der
Decke herab, und darunter war in dem
größten der drei durch Stoffwände ge-
trennten Räume der Mittagstiſch mit klei-
nem Tafelgeſchirr ſauber und ſachverſtändig
gedeckt. /

Am Tiſch obenan ſaß, die echten Zöpfe
über dem geiſtvollen, lebhaft gefärbten Por-
zellangeſicht aufgeſteckt, Chriſta — ſo be-
nannt, weil vorige Weihnachten das Chriſt-
kind ſie gebracht hatte — und überſtrahlte
in ihrem niedlichen Schulmädchenkoſtüm
die blonde Wachskopf⸗Mathilde, eine ver-
bleichende Schönheit, die, immer leidend,
den halb ausgeriſſenen Arm in kunſt-
gerechter Bandage trug und bei genügen-
dem Leibdruck klagend „Papa“ und
„Mama“ ſagte. Leidend war ſie eigentlich
in Nacheiferung von Seelchens Mutter,
die es ſeit kurzem zu ſein ſchien und die


welche auch unter den Puppen an einer
Dritten ſich vollziehen mußte, an dem
ganz porzellanenen Annakind, deren rein-
liche, gequälte Exiſtenz unter einem be-
ſtändigen Waſchzwang ſtand.
/ Chriſta hängte nicht einmal zum Speiſen
das allerliebſte Mäppchen voll winziger
Hefte und Schreibmaterialien von der
Schulter, mit dem ſie heute früh zwiſchen
den Eiern überraſchend dageſtanden hatte
wie angetan mit einem düſteren Schick-
ſalsabzeichen. Seelchen verſtand das
Zeichen ſehr gut: ſchon in den näch-
ſten Tagen wollte der Vater ja ſie ſelber


einer ihnen befreundeten Lehrerin zu-
führen. Das hätte ſchon voriges Jahr zu
geſchehen gehabt, doch bisher machte es
dem Vater Freude, Seelchen ſelbſt zu unter-
richten. Ja, nun konnte er das wohl auf
einmal nicht mehr — auch die Mutter
konnte wohl nicht — kurz, ſie wollten Seel-
chen ganz gern mal auf die paar Stunden
los ſein. Freilich ſollte ſie zu nichts ge-
zwungen werden; ſie trauten ihr ſo viel
Vernunft zu, daß ſie's willig tat, und dar-
um hatten ſie bei dieſem großen Moment ſie
„Urſula“ genannt, wie eine Erwachſene.

Während Seelchen unter dem Flügel
herumkroch und ſich eine Beule nach der
andern holte, blieb ihr ein dumpfer Druck
irgendwo, der nicht von den Beulen her-
kam und den ſie zu vergeſſen ſtrebte. Viel-
leicht war es bei der Schulvorſteherin gar
nicht ſo ſchlimm, aber ſie konnte nicht be-
greifen, wie man das anſtellte: lernen —
wenn nicht für den Vater? Lernen, das
hieß ja: etwas behalten, woran etwas vom
Vater ſelbſt hängen blieb, und darum,
wenn ſie was davon vergaß, fühlte ſie
auch ſo deutlich eine große Reue: als ob
ſie ihn dabei vergeſſen habe. Aber Seelchen
wußte nicht recht, ob das auch jetzt noch
ſo damit ſein würde, denn abends, nach
jener Eröffnung durch die Eltern, als der
Vater wie jedesmal zum Gutenachtkuß an
ihr Bett kam, da ſagte er zwar, auch wie
jedesmal, „Seelchen“ anſtatt bloß „Urſel“;
aber ſie ſträubte und ſchämte ſich, gerade
als ſei es jemand ganz anderes, der ſie ſo
nenne und küſſe, ſie machte ſich ganz taub
und dumm und hörte nicht „Seelchen“,
ſondern „Urſel“ und ſpürte nicht einen
Kuß, ſondern einen Klaps und wiſchte ſich
endlich hinterdrein noch den Mund heim-
lich ab. Ja, ſo böſe und grimmig war
dem Seelchen zumute in ihrem verborgen-
ſten Herzen, da, wo auch nicht einmal
Eltern ganz hinabſehen.

Und obgleich ſie ihr Puppenſpiel unter
dem Flügel mit ſo feurigem Eifer betrieb
wie nur je, mußte ſie ſich doch fortwährend
daran erinnern, daß ſie mit dem Rücken
gegen das Wohnzimmer nicht abgeſchloſſen
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