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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 2.1913/​1914

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z ie dramatiſchen Dichter verſagen
(E heuer wieder einmal in Berlin.

2 Das Leiden iſt ſchon chroniſch

S 4{!’. geworden. Dafür kann die Ber-
liner Schauſpielkunſt einen Er-
folg um den andern verzeichnen. Voran
ſchreiten wie immer die beiden Bühnen Rein-
hardts. Im Deutſchen Theater bot uns der
Shakeſpeare⸗Zyklus einen zwar nicht ganz
königlichen, doch ſelbſtverſtändlich wieder
ſehr intereſſanten König Lear. In erſter
Beſetzung gab Baſſermann, in zweiter Schild-
kraut den ſtrohgekrönten Wahnſinnigen —
jeder nach ſeiner charakteriſtiſchen Veran-
lagung, wie ſie uns als Schulbeiſpiel ſchon
der Shylock⸗Vergleich gezeigt hat: Schild-
kraut bleibt der Inſtinktmenſch, Baſſermann

N


der Nervenkünſtler. König Heinrich IV. frei-
lich brachte eine wehmütige Erinnerung:
denn wer je den ritterlich⸗ſchlanken Tunicht-
gutprinzen von Joſeph Kainz geſehen hat, iſt
für Lebenszeit außerſtande, der Verkörperung
eines zweiten, und ſei ſie ſelbſt ſo anſprechend
wie die von Moiſſi, die vom Dichter ge-
ahnte Vollendung zuzugeben.

Reinhardts Shakeſpeare⸗Zyklus iſt eine
Tat. Und es ſei dabei ausdrücklich auch an die
verſtändnisvolle Unterſtützung durch das viel-
geſchmähte Berliner Parkett, vor allem aber
durch den ſtets ſtark gefüllten und ſtark be-
geiſterten zweiten Rang erinnert. Welche
Weltſtadt ſonſt brächte ein Publikum wie
dieſes auf, das imſtande iſt, einen ganzen
langen Winter hindurch ſich mit Shakeſpeares
Meiſterdramen füttern zu
laſſen? Es ſind dazu zwei-
malhundertfünfzigtauſend
freiwillige Entſchlüſſe jun-
ger Kaufleute und Studen-
ten, Kaſſiererinnen, Steno-
typiſtinnen und Kanzlei-
beamten erforderlich, den
Abend und das Geld nicht
in der Tangoprinzeſſin oder
im Kientopp oder beim
Skat totzuſchlagen. Eine
Viertelmillion Einzelſiege
Shakeſpeares und Rein-
hardts.

In den Kammerſpielen
zeigt Reinhardt die hoch-
entwickelte Kunſt ſeiner
Darſteller an Landsleuten
ſeines dramatiſchen Haus-
heiligen von nebenan, an
Franzoſen, Flämen, Dä-
nen, Ruſſen. An der Pro-
duktion der deutſchen Dra-
matiker iſt ihm blutwenig
gelegen. Auch Hofmanns-
thal und Vollmöller ſind,
wie es ſcheint, abgetan.
Karl Sternheim, deſſen
Luſtſpiel „Der Snob“ die
jüngſte Regieleiſtung Rein-
hardts darſtellt, hat ſich's
ausdrücklich verbeten, als
Vertreter des Deutſchtums
aufgefaßt zu werden. Er
verkörpert für Juden wie
Chriſten auch wirklich am
talentvollſten das interna-
tionale moderne Ghetto.
Undes iſt ſchade, daß Stern-
heim und Reinhardt nicht
den Mut gehabt haben, die
kluge und witzige Satire
vom „Snob“ ganz ruhig in
dem Kreiſe ſpielen zu laſſen,
 
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