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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 2.1913/​1914

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XXVII. Jahrgang 1913/1914
FF

Heft 6. Februar 1914 a
W.



Die Chriſtel Müller ſtapfte mit

ihren neunzehn Jahren ziem-
lich mißvergnügt durchs Leben
S hin. Sie ärgerte ſich, wenn
ihre Hausfrau oder auch andere Leute ihr
gelegentlich mit wehmütigem Schmunzeln
verſicherten, daß ſie um ihre neunzehn
Jahre zu beneiden ſei, denn ſie wußte wahr-
haftig nicht, was ſie von dieſen neunzehn
Jahren hatte und was ſie mit ihnen an-
fangen ſollte. Sie hätte nichts dagegen ge-
habt, wenn ſie ein Stück älter geweſen
wäre, ja ſie wünſchte eigentlich, daß das
nächſte Jahrzehnt ſchon um ſein möchte,
dann wüßte ſie wenigſtens, was aus ihr
und ihrer Zukunft würde und ob überhaupt
etwas daraus würde.

Jedenfalls aber wäre ſie dann aus der
trägen Unklarheit heraus, die jetzt immer-
fort über ihr lag und in der ſie ſich nicht
auskannte. In ſich und um ſich herum
tappte ſie wie im Nebel, hatte kein Ziel,
keine Richtung, ſie wußte nicht einmal, was
ſie wollte oder was ſie ſollte. In groben
Umriſſen ſtand ihr Leben natürlich feſt: ſie
war für eine Bettelgage am Hoftheater
engagiert, bekam dramatiſchen Unterricht
vom Oberregiſſeur Baumann und mußte
trachten, in ein oder längſtens zwei Jahren
unter beſſeren Bedingungen an eine kleine
Bühne zu kommen, um von dort aus ihren
Weg zu machen. Das alles hatte ſich ſo
von ſelbſt ergeben, weil ſie eben ein Thea-
terkind war, an das die Mutter nichts
hatte wenden wollen; aber ob es auch das
Richtige war, ob je eine richtige Komö-

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diantin aus ihr werden würde: ſie wollte
es wohl, aber ſie wußte es nicht. Sie hatte
nie, gar nie Gelegenheit gehabt, eine Ta-
lentprobe abzulegen. Der Zufall, der ge-
rade beim Theater aus den Reihen der
Choriſtinnen oder dem dritten Fach die
großen Begabungen hervorzerrt, war an
ihr immer vorübergegangen. Wenn ſie ſich
einmal herangedrängt hatte, um für die
erkrankte Vertreterin einer größeren Rolle
noch im letzten Augenblick einzuſpringen,
dann hatten alle, nicht zuletzt die eigene
Mutter, ſie lachend oder ärgerlich wegge-
ſchoben und geſagt: „Geh, du wüſter Spatz,
dich kann man doch nicht auf die Bühne
hinaufſtellen!“ ;

Da ließ ſie's denn und zottelte ruhig in
dem ärmlichen Leben weiter, wie's ihr die
Mutter nun einmal eingerichtet hatte. Sie
ſtatierte und ſchrie mit im Chor, ſpielte
bei der Friſeur⸗ und bei der Schreiner-
innung in Rührſtücken, die ihr ſelbſt zu-
wider waren, holte für den Liebhaber ihrer
Mutter Bier, ſtritt oder lachte mit ihm,
borgte der Mutter Geld oder auch ihre
ſehnigen Fäuſte, wenn der betrunkene Mann
ſie gar zu hart bedrängte. Schön war das
alles gewiß nicht, aber trotzdem war's ein
Heim geweſen, ein Platz, auf den ſie ein
Anrecht hatte und an dem ſie nie dazu ge-
kommen war, über ſich, ihre Jugend und
ihr Leben nachzudenken. Jetzt aber wohnte
ſie bei einem Gasarbeiter und ſeiner Frau
zur Miete, ſchlief in einem ſchmierigen,
düſtern Raum, aß mit ihren Hausleuten
in der Küche zu Mittag, hatte keinen Men-
 
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