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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 2.1913/​1914

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Neues vom Büchertiſch &

Von Carl Buſſe

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iejenigen Erzähler des 19. Jahr-
hunderts, die das deutſche Volk
in ſeiner Art und Arbeit, ſeiner
Vergangenheit und Gegenwart
belauſcht und dargeſtellt haben,
ſie finden ſich — mögen ſie ſonſt auch noch
ſo verſchieden ſein — laut oder leiſe in Einem
Punkte zuſammen. Nicht die großen Siege
des Schwertes oder des Geiſtes bewundern
ſie am meiſten, nicht das Volk, das auf dem
Gipfel der Macht ſteht. Man leſe Alexis
und Fontane, Raabe und Reuter, Freytag
und alle ihresgleichen: ſie weichen dem ſat-
ten, ſiegreichen, mächtig gewordenen Volke


geben knurrig ihre Meinung kund, daß das
roße Glück uns Deutſchen nicht gut zu be-
ommen ſcheine. Denn wir hätten es ferti 2
gebracht, in kurzer Zeit alle protzig⸗überheb-
lichen Emporkömmlingseigenſchaften in uns
zu entwickeln, und wären mit unſerer pom-
pöſen Fanfarenbläſerei allmählich die „ein-
gebildetſte“ Nation geworden. Theodor Fon-
tane ſpricht das aus, und Wilhelm Raabe
brummt und nickt dazu. Darüber mag jeder
im ſtillen Kämmerlein mit ſich zu Rate gehen
und den Kaſus nach perſönlichem Geſchmack
und Urteil entſcheiden. Nein — ſagen unſre
guten deutſchen Erzähler — dieſe Nation,
die allzuviel Sonnenglanz und Feſte nicht
verträgt, weil ſie in Sturm und Not und
ſchwerer Alltagsmühſal ſich emporgerungen
hat, ſie zeigte ihre herrlichſten Eigenſchaften
immer erſt im Unglück; ſie war nie größer,
als ſie klein, nie reicher, als ſie arm, nie
ſtärker, als ſie ſchwach war. Die zähe, ſtille
Arbeit, in der ſie ſich zuſammenfaßte und
mit der ſie ſich gegen ein oft übermächtiges
Schickſal behauptete, das iſt ihr ewiger Ruhm
und Preis, hierin war ſie eins mit den beſten
ihrer Fürſten und Führer. Wenn Willibald
Alexis, den Blick immer auf das ganze
Deutſchland gerichtet, ſeine breiten Bilder
aus fünf Jahrhunderten brandenburgiſch-
preußiſcher Geſchichte entwirft, dann macht
ihm nicht Fehrbellin das Herz heiß, ſondern
der Gedanke, was der Große Kurfürſt in Not
und Mühe aus der Wüſte, die er vorfand,
geſchaffen hat. Dann leuchten ſeine Augen
nicht bei den glorreichen Siegen von Fride-
ricus Rex, ſondern gerade bei den Nieder-
lagen von Kolin und Hochkirch, wo alles


...............

verloren ging, nur nicht der Mut. Und ſo
ſind auch die übrigen Erzähler nicht ſo an
die Hoch⸗ und Glanzpunkte unſrer Geſchichte
herangetreten, ſondern gerade an die Epochen
der Erniedrigung oder der ſtillen, zähen Vor-
bereitung. Nicht 1813-1815 haben ſie uns
geſchildert, ſondern die „Franzoſentid“, die
Jahre „vor dem Sturm“, die Jahre der Knecht-
ſchaft, der Selbſtbeſinnung, der heimlichen
Gluten. Nicht das Lied von Sedan haben
ſie geſungen, aber wie Raabe mit aller Kraft
und Gläubigkeit das ſtille, treue, herrliche
Volk der Tiefe gezeichnet, deſſen innere Größe
die äußere zur gegebenen Stunde nach ſich
ziehen mußte.

Es erſcheint mir danach auch weder ver-
wunderns⸗ noch beklagenswert, daß das
vorübergerauſchte Erinnerungsjahr bei aller
feſtlichen Anſtrengung der Literatur gar
keinen bezüglichen Gewinn zugeführt hat.
Das war vorauszuſehen und nicht anders
zu erwarten. Und doch legte man alle die
Säkulardichtungen mit einem böſen Katzen-
jammer beiſeite, doch ſah man ſich immer
von neuem um, ob denn wirklich kein ein-
ziger den Ton traf, der uns aufhorchen ließe,
der entſchwundenes Leben lebendig, der den
großen Volksſturm uns nicht hiſtoriſch, ſon-
dern dichteriſch- naiv verſtändlich machte.
Ich glaube, im letzten Augenblick iſt dieſer
eine noch erſchienen. Erfüllt er nicht alles,
was die Nation begehrt, ſo erfüllt er doch
bei weitem mehr als jeder andere Erzähler,
der ſich in letzter Zeit an das heiße Eiſen
gewagt hat. So wollen wir ihn freudig be-
grüßen und ihm die Hand ſchütteln, um ſo
lieber noch, als es ein wackrer und lange
erprobter Kämpe iſt, der den Kranz ge-
winnt: der mannhafte, kerndeutſche Aug uſt
Sperl. Dabei iſt zweierlei hervorhebens-
wert: erſtens, daß dieſer Mann ſeinem gan-
zen Weſen nach der eigentlich modernen
Literatur völlig fremd gegenüberſteht; zwei-
tens, daß auch er, gewiß ganz unbewußt,
auf der Linie der Tradition bleibt und uns
nicht auf die Höhen der erſtrittenen Frei-
heit, ſondern in die Tiefen der Knechtſchaft
führt. Aber er läßt uns erleben, wie darin
die Flügel wachſen, die nach oben reißen.

„Burſchen heraus!“ hat er ſein Buch
genannt, einen „Roman aus der Zeit unſerer
tiefſten Erniedrigung“ (München, C. H. Beck-
 
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