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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 2.1913/​1914

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s m April fuhr Chriſtel zum Gaſt-

J ſpiel. Es endete mit einem
völligen Mißerfolg. Der Direk-
tor zwar hätte nicht übel Luſt
gehabt, die Kleine zu engagieren, in der er
Talent witterte, aber das Publikum und
die Kritik verhielten ſich ſo ablehnend, daß
er ihr keinen Kontrakt geben konnte. Sie
hatte als Luiſe Millerin, Hilde Wangel
und als Magda in der „Heimat“ gaſtiert,
und jedesmal war der Applaus ganz
ſchwach, die Kritik faſt feindſelig geweſen.
Sie ſprachen ihr nicht die Leidenſchaftlich-
keit ab, aber ſie fanden, daß es eine un-
edle, faſt abſtoßende Leidenſchaft ſei, die
jedes Adels entbehre. Und ihr Äußeres
ſtörte einer Zuhörerſchaft, die an eine
rührende Schönheit gewohnt war, jede
Illuſion. In einer Kritik hieß es: „Fräu-
lein Morandi (ſo nannte ſich Chriſtel
nach ihrer Mutter) ſcheint ſowohl ihrem
Talent wie ihrem Außern nach mehr auf
die Verkörperung gewiſſer hypermoderner,
hyſteriſcher Frauengeſtalten hinzuarbeiten,
als auf klaſſiſche oder moderne Charaktere,
die von edler Weiblichkeit erfüllt ſind.
Selbſt die kecke Hilde Wangel wurde in
ihrer Auffaſſung zu einem Zerrbild, wie
der Magus aus dem Norden es ſicher nicht
gedacht hat. Wir hoffen, daß die Direktion
weiter bemüht ſein wird, für den bevor-
ſtehenden Verluſt Erſatz zu finden, den
Fräulein Morandi ſicher nicht bieten kann.“

Chriſtel war niedergeſchlagen, aber nicht
allzuſehr; es lebten in ihr ein gewiſſer Trotz
und auch der leiſe Größenwahn aller an-
gehenden Künſtlerinnen. Peinlich war es
ja, daß die Zeitungen ſo garſtig über ſie
geſchrieben hatten, aber mußte man ihnen
aufs Wort glauben? Hatten ſie nicht
ſchon ganz ebenſo und noch viel ſchlimmer
über Namen geſchrieben, deren Glanz heute
über die Welt hinſtrahlte? Nein, das
wär' kein richtiges Talent, das ſich vom
erſten Mißerfolg gleich niederdrücken ließe;
im Gegenteil, jetzt hieß es, ſich erſt recht
zuſammennehmen und ſich mit Ellbogen-


kraft zu dem Weg hindrängen, den man
als den rechten erkannt hatte. Der Ober-
regiſſeur ſchüttelte den Kopf über dieſe
Kurage, die ihm mehr wie Eigenſinn vor-
kam, wie Selbſtverblendung, die er nicht
begriff. Weil aber Chriſtel nun einmal
verſeſſen ſchien aufs Komödieſpielen und
weil er auch nicht wußte, was ſie ſonſt
hätte tun ſollen, zog er abermals ſeinen
Einfluß an und bemühte ſich, ein anderes
Engagement für ſie zu finden. So ganz
leicht war das nicht, denn die ſchlechten
Kritiken konnte man doch nicht einſchicken,
und auch mit den Bildern Chriſtels war
es eine beſondere Sache. Glichen ſie ihr,
ſo gefielen ſie den Direktoren nicht, und
gaukelten ſie mit Hilfe eines langgeſtreckten
Formats und ſtarker Retuſchen eine große,
bildhübſche Erſcheinung vor, ſo war die
Enttäuſchung umſo größer, wenn das
Original zum Gaſtſpiel eintraf. Schließ-
lich gelang es Baumann aber doch, ihr
abermals ein Gaſtſpiel auf Engagement
an einer andern Provinzbühne zu ver-
ſchaffen, und, als ſie auch hier durchfiel, noch
ein drittes. Der Mißerfolg blieb ſich über-
all gleich. Die ganze Chriſtel, wie ſie aus-
ſah, ſprach und ſpielte, paßte nun einmal
nicht in die Provinz, die an gewiſſen Vor-
urteilen feſthielt und durchaus nicht gewillt
war, ihren Geſchmack einer blutigen An-
fängerin zuliebe umzumodeln.

Als Chriſtel von ihrem dritten verun-
glückten Gaſtſpiel heimfuhr, begriff ſie
ſelbſt nicht recht, warum ſie eigentlich in
einen Zug geſtiegen war, der ſie unaufhalt-
ſam wieder nach Hauſe brachte. Es wäre
doch viel geſcheiter geweſen, ſie hätte ſich
auf die Schienen gelegt. Sie ſaß in einem
Abteil dritter Klaſſe, lehnte den Kopf
an die harte Holzwand, ſchloß die Augen
und dachte: „Wenn der Zug doch nur
immer ſo fortrattern möchte, Tag und
Nacht, daß ich gar nie mehr auszuſteigen
brauche .. . :

Er ratterte und ratterte, beſpie ſeine Bahn
mit Dampf und Lärm, warf wie krampf-
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