Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 2.1913/​1914

Zitierlink: 
https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/velhagen_klasings_monatshefte1913_1914a/0453

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
s gibt eine Wiſſenſchaft von dieſen

Dingen: die, Geheimwiſſenſchaft“.

Die Bezeichnung ſcheint einen offen-

baren Widerſpruch in ſich zu ber-

gen. Verſteht man doch allgemein

unter dem Ausdruck „Wiſſenſchaft“ die ge-
ordnete Einheit aller geſicherten Ergebniſſe
undEErkenntniſſe, die ſich durch möglichſt weitge-
brachte Klarheit zur Verbreitung eignen. Ja
noch mehr: ſeit der franzöſiſchen Revolution,
kaum jemals vorher, verbindet man immer
deutlicher mit dieſem Begriff ein Gewebe von
Erkenntniſſen, die nicht bloß verbreitbar ſind,
ſondern auch zum allgemeinen Beſten der
Menſchheit verbreitet werden ſollen. Die nie-
mals vorher geahnte Entfaltung der ange-
wandten Naturforſchung im 19. Jahrhundert
mit ihren tief in das Leben des Alltags ein-
dringenden Schöpfungen hat am meiſten
dazu getan. Wenn Alexander von Humboldt
mit ſeinem für ſolche Fragen beſonders ge-
ſchärften Blicke ſchon in den vierziger Jah-
ren ſagen konnte: „Die Wiſſenſchaft wird
eine Großmacht (Puissance)“, ſo entſpricht es
heute völlig der Wahrheit, wenn man ſie ge-
radezu als die Großmacht der Gegenwart be-
zeichnet. Man braucht auf die wirklich märchen-
haften Erfolge der gegenwärtigen Technik
und Medizin nur hinzuweiſen. All das iſt
geworden und iſt groß geworden dadurch,
daß jahrhundertelanges Mühen die geiſtigen
Hilfsmittel der Forſchung reinlich und ſauber
entwickelt hat; und das hatte nur geſchehen
können, indem alles Unbekannte, Schwan-
kende, Gefühlsbetonte zuerſt ängſtlich, ſpäter
gewiſſenhaft, dann unbarmherzig ausgeſchal-
tet wurde. Ob es notwendig war, dem toten
Löwen noch den gewiſſen Fußtritt zu ver-
ſetzen, wollen die nachfolgenden Betrach-
tungen beſcheiden zur Erörterung ſtellen. —
Daß Wiſſenſchaften alſo nichts „Gehei-
mes“ enthalten dürfen, lehrt ihre Entwick-
lung — oder richtiger — die gegenwärtige,
volle Höhe der Entwicklung. Nach Goethes
tiefem Wort ſoll man aber von 2000 Jahren
Entwicklung Rechenſchaft geben können, will
man als „Gebildeter“ urteilen. Und man
braucht in Europa kaum eine ſo lange Zeit
zurückzugehen, um zu erkennen, wie innig
ſich klare Wiſſenſchaftsbegriffe mit geheim-
gehaltenen Kenntniſſen verbinden. Alle Er-
kenntnis liegt im Anfang der Geſittung bei den
Prieſtern, denen zunächſt allein überſinnliche
Lehren zur Verbreitung anvertraut ſind. Bei
den Agyptern, Indern, wahrſcheinlich auch
bei den Hebräern und Etruskern ſind deshalb
im Uranfang die Prieſter im Beſitze des ge-
ſamten Wiſſensinhaltes der Zeit. Es ſoll



hier nicht entſchieden werden, ob dieſe Kaſte
nur den langſam durch Anhäufung von
Erfahrungskenntniſſen zuſtande gebrachten
Schatz behütet, den ſie ſelbſt alſo nicht ge-
hoben hat und ſich bloß anmaßt; oder ob
ihnen nicht eine höhere, uns Gegenwarts-
menſchen völlig unbegreifliche Eingebung
den erſten folgenſchweren Weg ins Land
der Erkenntnis erleuchtet hat: ein Amt und
ein Geſchenk. Wie ſonſt häufig erkennt
man auch hier bei den ausgeſprochenen
Vertretern der Geheim- und Naturwiſſen-
ſchaft den ſtreng gegenſätzlichen Stand-
punkt. Die Geſchichte der Kultur, beſonders
die Geſchichte der Wiſſenſchaften, läßt alle
Erkenntniſſe aus dem mühſamen Anhäufen
und Anordnen zufälliger Sinneswahrneh-
mungen entſtehen. Sogar der Mathematik —
bei Descartes das unantaſtbare Überzeu-
gungsmittel aller Gottesbeweiſe, bei Kant
noch das einzige unbedingt Wahre, die
Ausſtrahlung Gottes in die Sinnenwelt —
auch ihr hat der geſchichtliche Sinn des
19. Jahrhunderts den geheimnisvollen Glanz
genommen. Sie entſtammt, wie alle übrigen


Im Gegenſatze hierzu laſſen die Ver-
treter der Geheimlehre die Wiſſenſchaften in
hoher, vollſtändig ausgeprägter Reife be-
ginnen. Bald wird hervorragenden Men-
ſchen, bald einem ganz nebelhaft verſchwun-
denen Volke (den Atlantiden) dieſe hohe
kulturſchöpferiſche Begabung zugeſprochen.
Einige Schriftſteller gehen ſogar ſoweit, daß
ſie den jetzigen Stand der Wiſſenſchaft nur
als erblichenen Abglanz, als die geretteten
Trümmer eines zerborſtenen uralten Bau-
werkes bezeichnen. Beſonders hat ſich Gott-
hilf Heinrich Schubert in ſeinem heute ſchon
vergeſſenen, ſehr lehrreichen Werke „Die
Nachtſeiten der Naturwiſſenſchaften“ bemüht,
dieſen Gedanken nachzuweiſen.

Der merkwürdige Gegenſatz wurde nur
erwähnt, um die Verſchiedenheit der Lehr-
arten zu zeigen, nicht aber um ſeine Richtig-
keit unbedingt zu behaupten. Im Eingange der
ganzen Darſtellung ſollte dieſer Gegenſatz als
Beispiel dartun, daß alle ſogenannten Geheim-
wiſſenſchaften eigentlich die gleichen Fragen
verfolgen wie die heutige Wiſſenſchaft, aber
mit gegenſätzlich gerichteten Hilfsmitteln.
Man darf nicht kurzweg ſagen: die Gegen-
wart arbeitet induktiv, der Irrtum und die
Vergangenheit hätten ſich im Deduktiven ver-
fangen. Heute arbeitet die Erkenntnislehre
noch immer deduktiv, und ſicher haben die
Geheimwiſſenſchaftler induktiv gearbeitet, ehe
noch die Naturwiſſenſchaften gelernt haben,
 
Annotationen