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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 2.1913/​1914

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daß es ſeine Mutter geweſen ſei, die man
auf ſolche Weiſe vom Sterbebett ihrer Toch-
ter zurückgehalten hätte.
und überraſchend wirkende, aber doch auch
unkünſtleriſche Bekenntnis hat er jetzt ge-
ſtrichen. Man braucht nicht zu betonen,
daß er recht daran getan hat. Denn nach wie
vor bleibt der kleinen Geſchichte die leiden-
ſchaftliche Eindringlichkeit einer perſönlichen
Schmerzerfahrung bewahrt, und auch ſo lehnt
ſich uns das Herz gegen Satzungen auf, die
ähnliche Tragödien ermöglichen.

Nicht minder ſtark und unverbraucht iſt
der Stoff der zweiten Novelle: „Der Fang-
hund“. In ehrlicher Not, um ſeiner hungern-
den Familie willen, hat ein Kerl geſtohlen
und gemordet, alle Gendarmen hetzen hinter
ihm her, und der ſchwarze Silzer Poſten-
führer, der „blutige Fanghund“, erwiſcht ihn
beinah. Der Mörder ſpringt in den Inn,
der Gendarm ihm nach, aber mit ſeinen
ſchweren Ausrüſtungsſtücken gerät er in die
reißende Strömung. Wirbel kreiſen ihn ein,
er iſt verloren. „So helf mir Gott um Weib
und Kind willen!“ gellt ſein Schrei in höch-
ſter Not übers Waſſer. Da rettet ihn der
Mörder, der ſelber um Weib und Kind willen
zum Verbrecher geworden iſt. Ein kurzer
Dank; gleich iſt der Gendarm wieder Gen-
darm und will den Mörder arretieren. Der
rückt aus. Getreu ſeiner Inſtruktion brüllt
ihm der „Fanghund“ nach: „Steh oder ich
ſchieße!“ Und als der Flüchtling nicht hört,
knallt er ihn nieder. Erſtattet Meldung,
wird belobt, iſt aber innerlich zerriſſen. Er
ſpricht ſich ſelbſt das Urteil: „Als Gendarm
gut — als Menſch ein Schweinehund! Mich
hat es eingezwickt!“ Und er erſchießt ſich.

Um eine ungefähre Vorſtellung davon zu
geben, mit welcher Konzentration und Kürze
Schönherr ſchreibt, ſei nur erwähnt, daß die
ganze eben nacherzählte Novelle im Druck
dieſes Artikels etwa den Raum von einund-
dreiviertel Seiten einnehmen würde. Na-
türlich iſt alles mit großen, wuchtigen Skiz-
zenſtrichen hingehauen, jede Reflexion, jede
Schilderung vermieden, ein Außerſtes an
reiner Darſtellung erreicht. Das Ausmalen
im Einzelnen bleibt dem Leſer überlaſſen,
doch ein kurzes Eigenſchaftswort, eine gleich-
ſam durch die Zähne geſtoßene Bemerkung

genügt für die nachſchaffende Phantaſie. Man
erkennt den Dramatiker.

Zwei andere Skizzen handeln von den
„Malheurkindern“, die ſich höchſt unerwünſcht
eingeſtellt haben. Und vornehmlich im
„Glückskind“ wird zuletzt ein Trumpf aus-
geſpielt, der alles niederſticht. Bevor da das
kleine Lieschen, das immer nur Schläge be-
kommen hat, ins Waſſer geht, zieht es ſich
das ſchöne Kleid der glücklicheren Schweſter
an, nimmt das Geld aus dem Sparſchwein
und macht ſich noch eine frohe Stunde auf
dem Ringelſpiel, dem Karuſſell. Wie es ſich
da vor den andern Kindern als glückliches
Prinzeßchen gibt und ſich beneiden läßt, das

ziſt gewaltig und herzerſchütternd — ein paar


Seiten, die den Meiſter zeigen. Am wenig-
ſten behagen mir die ſatiriſchen Stücke, etwa
die „Henkersmahlzeit“ oder „Der Lebens-
retter“: beide zu kraß und zu grauſig, um
noch äſthetiſch wirken zu können. Dagegen
läßt man ſich die beiden Eheleute, den Kaſpar
und die Reſi, die vor lauter Arbeit nicht
zur Liebe gelangen können, recht wohl ge-
fallen. Noch einmal: ein ſchmales Buch.
Aber eins, das es in ſich hat.

Der Tiroler mag dem Steiermärker die
Klinke in die Hand geben. Peter Roſegger
bringt uns eine neue Folge von „Mein
Weltleben“); ſie führt den Untertitel „Er-
innerungen eines Siebzigjährigen“
(Leipzig, L. Staackmann). Es iſt ein Buch
der „Nachträge“; es zieht die Hungerharke
über abgeerntete Felder. Halm zu Halm
ergibt eine Garbe. Es ſoll nach Roſeggers
Willen die letzte ſein.

Der alte Poet will hier vor allem „ſolche
Sachen erzählen, die ſonſt niemand ange-
merkt hat und weiß“. So berichtet er in
zuſammenhangsloſen Artikelchen von Eltern
und Geſchwiſtern, Nachbarn und Jugend-
kameraden, von ſeinem Lehrer und ſeinem
Meiſter, von Frau und Kindern, von Er-
lebniſſen und Ergebniſſen. Immer mal wie-
der flimmert auf einem kurzen Satze der
alte Roſeggerſche Schmelz, und wenn man
nun ſchon auf eine einheitliche Lebensbeſchrei-
bung verzichten muß, ſo nimmt man mit
Dank dieſe Biographie in Tablettenform
entgegen. Man hört, daß Roſegger einmal
beinah Volksſchulinſpektor geworden wäre;
man vernimmt erſtaunt, daß ſelbſt er mit
ſeinem „Heimgarten“ unter Zenſurſchwierig-
keiten zu leiden hat; man pickt ſich dieſes
und jenes Korn auf und läßt ſich direkt be-
ſtätigen, was man lange wußte: daß der
ſteiriſche Volksſchriftſteller ſehr ſenſitiv und
gegen Kritik empfindlich iſt. übrigens hat
er da ein prächtiges Wort: „Tüchtiges ſchaf-
fen, das hält auf die Länge kein Gegner
aus.“ }

Dann erzählt er von geiſtigen Wander-
genoſſen: von Anzengruber, Baumbach,
Pichler, Spielhagen u. a. Auch ſeine Ha-
merling⸗Begeiſterung tritt nochmals zutage,
aber er wird den Freund nicht retten. Ganz
einig iſt man mit ihm dafür im letzten Teil
des Buches, worin er von ſeinen Aufrufen
und Sammlungen für Kirchen, für Schulen
und für die deutſche Schutzſtiftung berichtet.
Man ſieht wieder, wie dieſer Mann immer
aufs Leben zielte. Er, der Katholik, hat
Steine getragen zum Bau der evangeliſchen
Heilandskirche in Mürzzuſchlag; er hat eben-
ſo für eine katholiſche Kirche geſammelt und
bemerkt nebenbei, daß auch der weitaus
größte Teil der hierfür eingegangenen Summe
von — Evangeliſchen ſtammte; er hat mit
ſolchen Werken der Liebe ſich ebenſo feſt ins
Gedächtnis der Menſchen geſchrieben wie mit
den Werken ſeiner Feder. Ich glaube nicht,
daß der dogmenſchwere Moniſtenpapſt und
Sonntagsprediger Wilhelm Oſtwald ihm
 
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