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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 2.1913/​1914

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friſchen könnten, aber an den älteren roma-
niſchen Kulturen trinken wir uns nur den
Tod. Außerdem will franzöſiſcher Geiſt
ebenſogut ein franzöſiſches Kleid, wie deut-
ſcher Geiſt ein deutſches — ſonſt wirken beide
leicht maskenhaft. Das iſt es, was man
Alexander Caſtell ins Album ſchreiben muß.

Mit weſentlich mehr Hoffnung darf man
dem weiteren Wege des kürzlich aufgetrete-
nen Schleſiers Hans Reiſiger entgegen-
ſehen. Er iſt jung und vorläufig noch in
Abhängigkeit von allerlei Muſtern. Sein
Roman „Jakobsland“ (Berlin, S. Fiſcher)
erzählt die Geſchichte eines ſchleſiſchen Kalk-
werksbeſitzers, der nach brich lenk Geſchäf-
ten vor dem Zuſammenbruch ſteht und da-
durch gerettet wird, daß ſeine ſchöne Tochter
einen reichen Konkurrenten heiratet. Das
Intereſſe an dieſem Stoff iſt nicht gerade
groß, um ſo weniger, als ſich der Mittel-
punkt des Romans mehrfach verſchiebt. Erſt
iſt es Jakob Scholz, auf den alles Licht ge-
ſammelt wird, dann dankt er mehr zu gun-
ſten ſeiner Tochter ab, und zuletzt drängt ſich
ein junger Künſtler gefährlich vor. Offen-


ſache, ſie wird in einen dichten Nebel koſt-
barer, umſtändlicher und romantiſcher Ge-
fühle gewickelt, der die Schlichtheit und Klar-
heit nicht gerade befördert und alle Linien
erweicht. So hat man zuzeiten das Gefühl,
weg⸗ und ſteglos durch einen gallertartigen
Brei zu irren. Wahrſcheinlich tappt Hans
Reiſiger hier nur gläubig ſeinen ſchleſiſchen
Landsleuten Hermann Stehr und Carl
Hauptmann nach. Kalkwerk und Kloſter,
Dreck und Weihrauch, Naturalismus und
Myſtik mengen ſich zu gewollter Neuroman-
tik, Geſchäftsleute zitieren Hymnen von No-
valis, und chriſtkatholiſche Frömmigkeit
ſchwankt inbrünſtig zwiſchen Sinnlichkeit und
Entſagung. Das iſt viel weniger originell,
als der junge Dichter wahrſcheinlich meint,
aber manches deutet darauf hin, daß das
Geſchraubte und Angeleſene langſam ab-
fallen wird. Wenn der Klärungsprozeß ge-
lingt, wird man ſich weiter mit dem Schleſier
zu beſchäftigen haben. Pflanzen wir alſo
vorläufig über dem verſchwommenen Jakobs-
land eine Fahne oder ein Fähnchen der
Hoffnung auf. —

Zwei Memoirenwerke — ein berühmtes,
das in neuer Ausgabe vorliegt, und ein bis-
her unbekanntes — ſeien zuletzt genannt.
Fangen wir mit dem zweiten an: es ſind die
„Erinnerungen eines alten Lützower
Jägers“ von Wenzel Krimer. Sie haben
achtzig Jahr handſchriftlich im Familien-
beſitz geruht; ſie füllen nun die beiden neue-
ſten Bände der im Verlag von Robert Lutz
in Stuttgart erſcheinenden Memoirenbiblio-
thek. Der Herausgeber will in ihnen „das
menſchlich intereſſanteſte Dokument aus der
Zeit der Freiheitskriege“ und überhaupt eins
der „bedeutendſten und lebendigſten Memoi-
renwerke“ entdeckt haben, aber Herausgeber

ſind oft zu optimiſtiſch, und Papier jedweden
Stärkegrades iſt geduldig. So wird man die
Begeiſterung dämpfen müſſen: lebendig und
intereſſant iſt das Werk gewiß, „bedeutend“
iſt es ſowenig, wie der Mann, der es ſchrieb.
Dieſer Wenzel Krimer war nach ſeinen Auf-
zeichnungen ein Unruhgeiſt, der in einem
mähriſchen Städtchen 1795 geboren ward,
mit einer legendariſchen ungariſch⸗ adligen
Abkunft liebäugelt, mit Behagen ſeine ſor-
ſchen, manchmal faſt rohen Jugendſtreiche
erzählt und durch ſeinen impulſiv⸗abenteuer-
lichen Sinn in ein ſehr bewegtes Leben ge-
riſſen wird. Von der Kloſtererziehung be-
richtet er haarſträubende und höchſt ein-
deutige Dinge, aber die Empörung darüber
hindert ihn doch nicht, ſich in Situationen
wohlzufühlen, die auf ſeinen Charakter kein
Glanzlicht werfen. Er tritt ſpäter in das
Lützowſche Korps der Rache, kämpft erſt als
Soldat, begleitet dann als Arzt die verbün-
deten Heere, und man muß ſich doch vor-
halten, daß er ein ziemlich äußerlicher, rauf-
boldiger, allzufrüh desilluſionierter und wenig
wähleriſcher Menſch war, um ſeine Erinne-
rungen gerade auch aus den Freiheitskriegen
richtig zu werten. Es kommt bei ihm näm-
lich weniger noch der große Zug der Zeit
heraus, als die tauſenderlei kleinen Menſch-
lichkeiten und Unmenſchlichkeiten, Schweine-
reien und Greuel, die nun einmal von Kriegs-
zeiten und Heerlagern unzertrennlich ſind.
Ich glaube auch nicht, daß er immer ver-
läßlich iſt. Fazit: eine intereſſante Lektüre,
aber mit Vorſicht zu benutzen.

Die gleichen Worte darf man wohl, nur
von einem höheren Standpunkt aus, auch
auf die berühmten Denkwürdigkeiten des
Herzogs von Saint⸗Simon anwenden.
Eine kleine Auswahl davon hat Wilhelm
Weigand unter dem Titel „Der Hof Lud-
wigs XIV.“ im Inſelverlage herausgegeben,
und als einer der feinſten Kenner franzö-
ſiſcher Kultur hat er eine ausgezeichnete,
ausführlich unterrichtende Einleitung dazu
geſchrieben. Der abgeſägte Hofmann und
bitter enttäuſchte Grandſeigneur, der in
Altersmuße aus unzähligen Einzelzügen das
farbenreichſte Gemälde der Geſchichtsperiode
des Sonnenkönigs zuſammenſetzt, der mit
heimlicher Glut und überraſchendem ſprach-
lichem Reichtum aufs Papier bannt, was
ſonſt nur innerhalb der Zeit von Mund zu
Mund geht, der aus gekränktem Ehrgeiz,
ein inbrünſtiger Haſſer, neben alles Licht die
ſchwarzen Schatten malt — — er iſt ein
Mann, dem zuzuhören ſich lohnt. Man ſieht
förmlich, wie er manchmal aufſpringt und
ſich die Hände reibt, wenn er wieder einmal
das allzu Menſchliche in einem großen Men-
ſchen aufgeſpürt hat. Und bei aller Partei-
lichkeit, Verzerrung, Ungerechtigkeit im Ein-
zelnen bleibt ſein Werk als Ganzes doch
außerordentlich. Es iſt erfreulich, daß wir
es nun wenigſtens im Ausſchnitt in einer ſo
guten und ſchönen deutſchen Ausgabe beſitzen.


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