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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 2.1913/​1914

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Kuckucksheimer Anzeiger redigiert, iſt ein
normaler und bürgerlicher Herr, den oft nur
Jugendtorheit, Lebensunverſtand und Ruhm-
ſucht in die Irre trieben. Er hat Frau und
Kinder, denn alle Unglücklichen haben die
Sehnſucht nach dem Heim, und vielleicht ver-
achten ihn die Kinder und haßt ihn die Frau.
Er tut ſeine Arbeit wie ein Tagelöhner, er
wühlt müde, indolent und verdroſſen in den
Ereigniſſen der Welt, in dem Chaos der
menſchlichen Leidenſchaften, in den Schätzen
der Kunſt, wo andere fiebernd und begeiſtert
zupacken würden. Für ihn hat die Welt keinen
Zauber und das Leben keinen Rauſch mehr.
Er liebt Bier und ſchwarze Zigarren und
genußtiefes Schweigen am Stammtiſch in
der „Goldenen Gans“. .

Eines Tages bricht er auf, wandert er
weiter, ins Neue und doch ewig Gleiche, und
ſchleppt den ſchweren Ballaſt ſeiner erſchöpf-
ten Seele mit ſich. Aber ſein Nachfolger iſt
ein anderer Typ, kein Alternder, ſondern
ein Junger, nicht ausgeſtoßen vom Groß-
betrieb, der erleſene Energien und raſendes
Tempo verlangt, ſondern ein Anfänger,
der die Winkelredaktion zum Sprungbrett in
die große Welt benutzen will. Er iſt un-
verbraucht, friſch, reſolut und elegant.
macht Figur in der kleinen Stadt, er wird
der Held der Träume und Salons. Die Frau
Apotheker unterhält mit ihm eine Seelen-


iſt Ballöwe, ſeine Krawatten ſind aufregend
modern und einzigartig, die Männer haſſen
ihn, und die Köchinnen, deren Herrſchaften
ihn Sonntags zum Eſſen laden, verſalzen die
Suppe und zerbrechen Geſchirr. Er hat zwei
möblierte Stuben, die bisweilen von ſündhaft
dicht verſchleierten Damen betreten werden.
Die Zeitung blüht unter dem reſoluten Schnitt
ſeiner Schere auf, er plündert, dank ſeinen
Sprachkenntniſſen, franzöſiſche und italieniſche
Zeitungen und füllt die eigene mit unerhörten
Senſationen. Die Welt, von ſeinen Augen
betrachtet, ſcheint plötzlich ins grauſig Schöne
verwandelt. Leidenſchaften raſen durch die
Spalten des Anzeigers, Autos überſtürzen
ſich, Flieger fallen wie Hagelbruch aus den
Lüften, Torpedos verſinken wie kindiſch ver-
lagen Kieſelſteine, aufregende Prozeſſe
jagen ſich.

Der Redakteur liebt das Werk ſeiner Schere.
Er verachtet ſeine Zeitung grenzenlos und


mender Ehrgeiz läßt ihn nicht ſchlafen. Seine
Begierde nach Berlin, Wien, München, Frank-
furt treibt ihn nachts durch ſeine kleinen
Stuben, durch die ſchlafenden Straßen. Seine
Träume ſprengen alle Möglichkeiten. Er,
der kalte Realiſt und Spötter, glaubt un-
verſehens an das Wunder, das ihn dieſer
beſcheidenen Stellung entrücken und auf den
erſten Poſten einer Weltzeitung emporheben
wird. Er ahnt nicht die bürgerliche Tragik
ſeiner kleinen Exiſtenz, die freundlichſte Göttin
ſchlug ihn mit Blindheit.



Vielleicht treibt in dieſer Redaktion noch
ein kleines Zwitterweſen auf den Wogen
des Zeitgeiſtes. Ein Kind der Stadt, der
Sekunda entronnen, fühlte der junge, bleiche,
kurzſichtige Herr Leiſegang den Drang zum
Journaliſten in ſich. Er erſtrebte und erhielt
— ſcheinbar zögernd, in Wahrheit voll Freude
— einen unbeſoldeten Volontärpoſten in der
Redaktion. Da ſaß er erſt ſtumm, ſtaunend,
die erſte Zigarre rauchend, der flinken Schere
verblüfft zuſchauend, die neue Atmoſphäre,
die Luft der Weltſeele tief einſaugend; dann
verwandte man ihn dazu, allerlei zu kleben,
die nächſte Nummer zuſammenzukleiſtern,
er durfte Überſchriften erfinden und ſeine
Schulphantaſie austoben in beſtellten Reklame-
artikeln des kleinen Kaufhauſes am Platze.
Um ſeinen Tag auszufüllen, ſchickt man ihn
nun bisweilen hinunter in die Expedition.
Die logiert in der Buch⸗ und Papierhand-
lung, die mit der Zeitung nahe verbunden
iſt. Am Ladentiſch, zwiſchen Anſichtskarten-
ſtändern und Ullſteinbüchern, Reclamheften
und einigen erſtaunlich umfangreichen Dich-
terbüchern, die reſigniert ihr Daſein ver-
ſchmachten, werden Abonnementbeſtellungen
entgegengenommen und Inſerate. Dann
ſchreibt Herr Leiſegang alſo eine Quittung
aus, hört erbleichend und errötend eine Be-
ſchwerde an, ſtiliſiert mit feinem Gefühl fürs
Lateiniſche eine Annonce um, darin Futter
für zwei Schweine geſucht wird, und emp-
fängt in hundert ſüßen Angſten durchs
Fenſter, zwiſchen Briefkartons, Kriminal-
novellen, papiernen Lampenſchirmen und
Tintenfäſſern hindurch die verzehrenden Blicke
der jungen Damen aus Fräulein Kurzbeins
Töchterinſtitut, für die er in ſeiner außer-
ordentlichen Stellung, welche ihn ſo nahe dem
Webſtuhl der Zeit bringt, ein achtenswertes
Weſen, eine bewunderungswürdige Indi-
vidualität geworden iſt.

Aber die erhebendſten Zeiten für Publikum
und Redaktion brechen doch an, wenn die
Theatertruppe eintrifft und im Stadtkaſino ihre
Komödien und Tragödien abwickelt, zwei Ope-
retten unter Mitwirkung der Stadtkapelle und
dem gemiſchten Chor der Stadt herausbringt
und mit den gleichen Hilfskräften eine alte
Singoper inſzeniert. Da hebt die Zeit der
Rezenſionen an.

Ein erfahrener Direktor, die weit erfahre-
nere Naive, die ſchlichte Heroine und zugleich
Salondame, die heldiſche Mutter, die den-
noch auch die komiſche Alte auf ſich nehmen
muß, der feurige Liebhaber, die Chargen, ſie
alle, alle ſprechen beſcheiden oder überlegen
in der Redaktion vor. Tagelang hat der
Volontär nichts zu tun, als Türen zu öffnen,
denn der eigentliche, oft recht geheime Emp-
fang und die diskrete Konverſation fallen
ausſchließlich den anderen Herren zu, die
ſchon Routine in ſolchen Angelegenheiten der
Welt und des Theaters haben. Weiche
Schlapphüte und etwas blinde Zylinder,
entblätterte Straußenfedern, ſchadhafte Pelze,
ſeidene Röcke, weiße Weſten, Parfüms, Puder-
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