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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 2.1913/​1914

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Aber vielen ſcheint es doch, als ob der
ganze „Anzeiger“ nur um des Fräuleins
Milka Bitterlich wegen exiſtierte und erſchiene.
So eine Dame pflegt immer am Erſcheinungs-
ort des „Anzeigers“ zu leben und zu dichten.
Meiſt nennt ſie ſich anders, Dolores oder
von Hohenſtein, oder gibt ſich männlichen
Geſchlechts und leiht ſich klaſſiſchen Namens-
glanz. Sie iſt an dem Hafen der Ehe vor-
beigeſtürmt, da er ihr verſchloſſen war, und
iſt am Geſtade der Muſen gelandet. In deren
Lorbeerhainen ſcheint ſie freundlichſt auf-
genommen und reich begabt worden zu ſein.
Denn ſie hat die Gewalt der Sprache und
beſingt die Jahreszeiten und den Gang der
Geſtirne, die Wechſelfälle der Liebe und die
gemeinen Machenſchaften des Geſchicks, die
Hoffnung, die Jugend und andere Begriffe
und legt in weiſen Sprüchen die Erkenntniſſe
ihres Erdenwallens nieder. Die Zeitung
nimmt dieſe Ausbrüche ihres Dichtertums
und ihrer Menſchenweisheit faſt allſonntäglich
auf. Und dann ſteht Fräulein Dolores ſchon
von ſechs Uhr an hinter der Tür und lauert
auf den Tritt der Zeitungsfrau, um unverzüg-
lich in den feuchten Blättern ihren Namen und
ihre ewigen Strophen zu ſuchen und immer
wieder beſeligt mit dieſem Beweis ihrer Un-
ſterblichkeit und dichteriſchen Miſſion ins kühle
Bett zurückzuſchlüpfen und dort wachen Träu-
men nachzuhängen. Sie trägt immer kühne
Hüte, einen Kneifer auf der Naſe und ein Buch
unterm Arm, man entdeckt ſie oft in träume-
riſchem Wandel auf den Wegen vor der Stadt;

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ſie unterhält verſchiedene Seelenbündniſſe mit
einem Aſſeſſor, dem Arzt, dem Amtsrichter
und dem Mühlenbeſitzer und einen ſchriftlichen
Geiſtesbund mit zwei Dichterinnen in an-
ſtoßenden Provinzen.

Aber wir, die wir bisweilen an einem
milden Abend uns in einer kleinen ab-
ſeitigen Stadt finden, nehmen gedankenlos
den „Anzeiger“ des Ortchens in die Hand.
Auf der Bank vor dem kleinen Hotel blicken
wir hinein und finden längſt geleſene Dinge,
Nachrichten, die uns ſchon vor Tagen in der
großen Stadt erreichten und erſt jetzt die
Gemüter hier erſchrecken. Wir leſen von
einem Lokalereignis und finden darin un-
vermutet ein Wort, das uns aufhorchen läßt;
ein Satzgefüge läßt uns aufmerken. Was
für ein verirrter Künſtler mag da in der
Winkelredaktion ſchmachten, welcher verlorene
Dichter hier einen Gardinenbrand beſingen?
Wir leſen dann die Fortſetzung eines Ro-
mans, der vor zwei Jahren in der Hauptſtadt
Soupergeſpräch war, und ein Gedicht, Dolores
gezeichnet, das von den Sternen und der
Liebe handelt. Und indem wir das Blätt-
chen ſinken laſſen, kommt die Ahnung fremder,
unglücksvoller Exiſtenzen leiſe geſchlichen, die
Entwürfe kleiner Komödien, bürgerlicher Gro-
tesken, geiſtiger Tragödien gehen uns durch
den Kopf, ein Lächeln kommt und geht voll
Scham. Denn es iſt die tiefſte Sehnſucht,
der ehrlichſte Schmerz, die innigſte Inbrunſt
und der Todeskampf des Geiſtes, der für
uns die komiſche Maske aufgeſteckt hat.

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