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Zeitschrift für christliche Kunst — 1.1888

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Keppler, Paul Wilhelm von: Die Stiftskirche zu St. Amandus in Urach
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https://doi.org/10.11588/diglit.3545#0016

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11

1888.

ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Xr. 1.

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davon, dafs er für den psallirenden Chor
Bedürfnifs und Wohlthat war, mufs auch
auf die architektonische Wichtigkeit dieses
Zwischenbaues hingewiesen werden, der
schöne perspektivische Durchblicke in den
Chor gewährt und den Eindruck der Chor-
halle nicht schädigt, sondern steigert,
indem er durch seine stark gezogene
Quer- und Trennungslinie die Höhe des
Chores zum Bewufstsein bringt und
seinen Abschlufs dem Auge ferner rückt.
An der Westseite der zwei Lettner-
pfeiler sind hübsche Konsolensäulchen an-
gebracht, welche einst Statuen trugen; an
der Konsole links hält ein Engel ein zier-
lich gerolltes Spruchband mit den Worten:
„wer ist die die hier fuir gat. canti VI. cap."
alte Uebersetzung des: ,,quae est ista,
quae progreditur" (quasi aurora consurgens;
cant. 6, 9); die Konsole trug also eine
Statue der hl. Jungfrau; an der anderen
Konsole verschlingt sich über einer Lage zu
einem hübschen Kranz geordneter Feigen
oder Birnen das Spruchband mit schönem
Laubwerk und zeigt die Inschrift: „sanctus
amandus hujus ecclesiae patronus 1520."
Was die Ausstattung der Kirche an-
langt, so ist die Gewölbebemalung der
Schiffe eines Blickes werth; sie stammt
zwar erst von 1588, hat aber durchaus
gothische Art und im Ganzen guten Cha-
rakter, nur ist sie zu schwer und plump.
Erstaunlich, fast möchte man sagen er-
greifend ist es, wie an den Nordwänden
der Seitenkapellen die alten Konsekra-
tionskreuze durch die vielen Schichten
von Tünche mit mächtiger Farbenkraft
durchleuchten. Es sind aber noch drei
Kunstwerke ersten Ranges, die in dieser
Kirche die Aufmerksamkeit beanspruchen.
In der Taufkapelle steht ein achteckiger
Taufstein mit der Inschrift am obern
Rande: „exstructum anno virginei partus
1518 pridie Kalendas Majas per me christo-
phorum statovarium (statuarium, Bildhauer)
civem urach(en)sem." Meister Christoph
durfte mit Selbstbewufstsein seinen Namen
hier anschreiben, denn der ornamentale

und figürliche Schmuck erweist ihn als
wahren Künstler. Von dem sternförmigen
Fufs aus schlingt sich tief unterschafftes
Geäste um den Kessel, oben acht ziem-
lich stark vertiefte Nischen mit Propheten-
brustbildern umrahmend. Moses, David,
Josua, Jonas, Isaias treten uns da ent-
gegen in kleinem, aber imponirendem
Bilde, mit Köpfen voll geistigen Adels
und Lebens; da ist nicht mehr blofs
steinerner Zierrat, da sind geistige Per-
sönlichkeiten , gleichsam ununterbrochen
damit beschäftigt, das grofse Sakrament
des Neuen Bundes zu überdenken und zu
verherrlichen.

Vielleicht gehört demselben Meister an
die steinerne Kanzel. Sie ruht aufgewun-
dener, von fünf Pfeilerchen umstellter Säule;
die Statuetten dieses Unterbaues fehlen. An
der Kanzelbrüstung vier Nischen mit Hoch-
reliefs der am Pult sitzenden vier abdländi-
schen Kirchenlehrer, Gestalten, welche nicht
ganz zu der persönlichen Freiheit und Bedeu-
tung jener Propheten herausgearbeitet, aber
immerhin tüchtig sind. Eine viel schmalere
fünfte Nische gegen denPfeilerhiij zeigt aber
eine stehende Figur im langen Talar, das
Doktorbarett auf dem Haupte, in der einen
Hand ein Buch, mit der andern agirend.
Was das für ein Lehrmeister ist, sagt die
Unterschrift: ,,can § pisie § gerson" == can-
cellarius parisiensis Gerson. Wir entnehmen
daraus, welche Verehrung für Gerson die
Brüder des gemeinsamen Lebens beseelte;
sie räumen ihm einen Platz ein da, wo
sonst nur Zutritt hatten die Verfasser der
Urkunde der frohen Botschaft und deren
vorzüglichste Verkündiger und nebst Chri-
stus dem Herrn selbst noch jene Jungfrau,
welche das Wort gebar und als „sedes sa-
pientiae" zu preisen ist. Freilich ist ein Rang-
unterschied zwischen ihm undjenen vier Hei-
ligen unverkennbar zum Ausdruck gebracht
durch die Anweisung des Platzes und die
Verschiedenheit der Haltung. Auch sind
jene Brüder weit entfernt gewesen, selbst-
mächtig an Gerson eine Kanonisation vorzu-
nehmen, wie in manchen Büchern zu lesen
 
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