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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 2.1913/​1914

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boldt und ihr Gemahl unterſtützten ſie. So
kam er als Attaché nach Rom und wurde zwei
Jahre ſpäter Legationsſekretär. Dort, wo der
Alte in herrlicher Kraft herumgegangen war,
ſaß jetzt der Enkel und ſehnte ſich nordwärts;
„wie immer zu alt und zu jung“ nennt er
ſich bezeichnend. Die Seele war wohl jung,
aber der Körper war alt in jungen Jahren.
Neuralgiſche Schmerzen quälten ihn bis zum
Wahnſinn, „körperliche Verzweiflung“ nennt
die Mutter ſeinen Zuſtand; „man ſtirbt ſo
lange, ſelbſt wenn man einmal angefangen
hat“, ſagt er ſelbſt. In Dresden, wohin er
1856 kam, ſcheint er ſich in der häuslichen
Gemeinſchaft mit der Mutter wohler gefühlt
zu haben. Er ſuchte um den Freiherrn nach,
da er ſich verheiraten wollte, und erhielt ihn
ſelbſtverſtändlich, wie auch Walter. Aber
die Heirat zerſchlug ſich, und ſeine Kräfte
waren auch bald wieder zu Ende: 1860 nahm
er den Abſchied.

Seine unglückliche Leidenſchaft war die
Schriftſtellerei, wie die Walters die Muſik.
Seine Gedichte ſind — als documents humains
— ſchmerzlich ergreifend: Ich möchte einmal
leben! Ich möchte einmal ſein! ruft er aus.
Aber das Geſchlecht des alten Tantalus war
beſtimmt, ſeine Freuden jenſeits der Nacht
zu haben. Er ſchrieb mit ungeheurem Fleiß
allerlei wiſſenſchaftliche Kleinarbeit, die er
als großes Werk angelegt hatte, aber die
Sachen waren kaum druckreif, und bei ſeiner
langſamen, umſtändlichen, ſkrupulös pein-
lichen Art und geringer phyſiſcher Leiſtungs-
fähigkeit überholt, ehe ſie zum Abſchluß kamen.
Zum tauſendſtenmal, klagt er, werde ich
veraltet, ein Greis, werde geſtorben ſein, ehe
ich noch geboren bin. Seine Geiſteskinder
waren wie die Walters nicht lebensfähig.

Und nur durch einen kindlichen Glauben
an die Weisheit der „dunklen Wege“ Gottes
vermochten dieſe beiden letzten ihr Daſein
zu Ende zu ſchleppen. Als ich mich ans
Univerſum anlehnte, ſchreibt der letzte Erbe
des großen Pantheiſten, fiel ich um, da ich
mich an Gott anlehne, bleibe ich aufrecht.
Eine Zeitlang dachte er daran, im Schoß
der katholiſchen Kirche Ruhe zu ſuchen.

Nach der Mutter Tode lebten beide in
der Manſarde. Im Arbeitszimmer ſtand
der kleine Schreibtiſch, den Goethe für ſein
Wölfchen hatte machen laſſen. Da hatte
man Marianne Willemers Käſtchen mit dem
Wiedehopf ausgepackt, und er hatte geſagt zu
des Großvaters Entzücken: Ich weiß ſchon,
das iſt ein Liebesbote. Da hatte er geſtanden,
ſchlank und friſch, die großen Goetheaugen
ſtrahlend von übermut. Und der Alte hatte


Sie zu dieſer Kultur unſrer zehnjährigen
Knaben? Es iſt eine hoffnungsvolle Nach-
kommenſchaft.“ Ach, das war lange her.
Jetzt gingen die beiden da oben zwi-
ſchen den Zeugen ſo großer und ſtarker
Zeiten herum, Zeiten eines Lebensüber-
ſchwanges, deſſen zehnter Teil ſie glücklich
gemacht hätte. Die Balken unter dem Arbeits-

zimmer verfaulten, der Sarkophag ſtand
unten und wartete. Ringsum in Deutſch-
land ſchimpften die Literaten und ſchalten
über die verknöcherten beiden, die des Groß-
vaters Erbe eiferſüchtig dem geiſtig intereſſier-
ten Deutſchland entzogen. Sie ſaßen und fro-
ren und ſchwiegen ſtill.

Im Jahre 1878 nötigten ſchwere aſthma-
tiſche Krämpfe Wolf nach Leipzig überzu-
ſiedeln. Die alte Dienerin vermochte ſeine
Pflege nicht mehr zu leiſten. Und ein fri-
ſcher, geſunder Menſch hätte nicht mehr in
dies Totenhaus gepaßt. Es gab keine Freude


tiſch anwendbar erſcheint auch hier das Iphi-
genienwort: Welch Leben iſt's, das an der
heil'gen Stätte ... vergebens hingeträumt,
ſelbſtvergeſſend die Abgeſchiedenen
feiern!!

Im Jahre 1883 verſchied Wolf in Leipzig
nach einem beſonders heftigen Anfall. Er
hatte dort bei einfachen Leuten gewohnt,
deren Sohn ihn pflegte. In jeder ſchmerz-
freien Stunde hatte er an ſeinem Verzeich-
nis italieniſcher Bibliotheken des Mittelalters
gearbeitet.

Zwei Jahre ſpäter ſtarb auch Walter.

Ein Jahr vor ſeinem Tode hat er in
überaus umſichtiger und großherziger Weiſe
über das Erbe Goethes teſtamentariſch ver-
fügt, namentlich das „Goethe- Archiv“ aus
„tiefempfundenem, weil tiefbegründetem


Händen, denen der Großherzogin Sophie
übergeben. Mit Beſchämung erinnert man
ſich heute der Ungerechtigkeiten, denen das
loyale und, wie man heute weiß, allein zweck-


Sie haben das Bild der großen Zeit treu
und unbeſchädigt der Nachwelt überliefert.
Ihnen allein danken wir all die rührenden
und erhebenden Bilder, die heute mit Garten-
haus, Goethehaus und Sterngarten vor uns

ſtehen.


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Und wenn reine Menſchlichkeit, nach jenen
Worten aus Goethes glücklicher Zeit, alle
menſchlichen Gebrechen ſühnt, ſo ſteht die
ſchöne, rührende, leidende Menſchlichkeit dieſer
Enterbten der Natur vor uns wie die torſo-
haften Geſtalten der verſtümmelten Griechen-
bilder, die uns ſtärker ans Herz greifen als
die kalte, prunkende der Vollkommenen. Es
ſchwindet ihr hartes Los im Duft und Däm-
mer der Ewigkeiten hin, in weichen Umriſſen
verſchwimmender Berglinien, und „nun der
Krampf des Lebens aus dem Buſen hinweg-
geſpület, fließet ſtill der Geiſt, der Quelle
des Vergeſſens hingegeben, hin zu den
Schatten in den ewigen Nebel,“ und „götter-
gleich und ähnlich“ treten die Letzten zu dem
„vielverehrten Haupt“, das an ihrem ſchwe-
ren Daſein die Schuld trägt, deſſen Troſt-
loſigkeiten ihre reinen und ergebenen Seelen
doch zuletzt in Harmonie und Frieden auf-
gelöſt haben.
 
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