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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 2.1913/​1914

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Neues vom Büchertiſch S
Von Carl Buſſe

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Karl Schönherr, Schuldbuch (Leipzig, L. Staadmann) — Peter Roſegger,
Mein Weltleben. Neue Folge: Erinnerungen eines Stebsig ah eigen
(Ebenda) — Ernſt Zahn, Der Apotheker von Klein⸗Weltwil (Stuttgart, Deutſche
Verlags⸗Anſtalt) — Max Kretzer, Das Mädchen aus der Fremde (Leipzig, B.
Eliſcher) — Alexander Caſtell, Capriccio (München, Albert Langen) — Hans



Dei dem überwiegend weichlichen, ja
femininen Charakter unſrer nach-
naturaliſtiſchen Dichtung freut
man ſich nachgerade wie ein
Schneekönig, wenn man wieder
einmal auf einen Mann ſtößt, auf eine
Perſönlichkeit, die aus härterem Holz ge-
ſchnitzt iſt. Hier und da kommt einer aus
den Bergländern, aus der Schweiz oder aus
Tirol; dieſen und jenen ſenden wohl auch
die altpreußiſchen Provinzen, über deren
kargen Boden herbe Lüfte ziehn, aber alles
in allem iſt in der heutigen Literatur, in der
man ſoviel äſthetiſche Feinheit für ein But-
terbrot kaufen kann, kein Artikel rarer, als
ſtarke, harte, ruhige Männlichkeit. Die we-
nigen, die ſie beſitzen, haben mit der zeit-
lichen literariſchen Entwicklung nichts zu tun;
ſie ſtehn abſeits, wirken nicht auf die Ju-
gend, und es iſt ein Glücksfall, wenn eins
ihrer Werke die allgemeine Aufmerkſamkeit
auf ſich lenkt.

Der Tiroler Karl Schönherr hat mit
„Glaube und Heimat“ dieſen Fall ja erlebt.
Ein ganz männlicher Poet, hat er ein großes
Publikum gepackt und geſchüttelt. Aber ſein
Erfolg hat gar keine tieferen Spuren ge-
zogen. Niemand, der ihm nachfolgt; keine
Jugend, die zu ihm ſteht; er iſt heut faſt
ebenſo einſam, wie er war. Für die verfehl-
teſten Schöpfungen von Frank Wedekind und
Herbert Eulenberg hegt die literariſche Gegen-
wart ein viel größeres Intereſſe, als für
ſeine reifſte Leiſtung. Er iſt eben ein Außen-
ſeiter; er iſt nicht „zeitgemäß“; er iſt zu
männlich. Beſonders in Wien, der Hoch-
burg der femininen und äſthetelnden Schrift-
ſtellerei, muß er ſich wie der reinſte Solokrebs
vorkommen.

Vor einigen Jahren hat er ein paar kräf-
tige Skizzen, darunter am ſchönſten die von
kämpfenden oder raufenden Tirolern, in
einem „Merkbuch“ geſammelt; jetzt trägt er
ein paar neuere Erzählungen in einem
„Schuldbuch“ zuſammen (Leipzig, L. Staack-
mann). Der Band iſt ſchmal, ſchmaler noch
als der vorige. Unter den acht Einzelſtücken,
die er enthält, haben auch ſchon ein paar in
einem jetzt wohl verſchollenen Novellenbuche
„Caritas“ geſtanden, das ich vor faſt zehn

Jahren an dieſer Stelle beſprach. Alſo be-
ſonders fruchtbar iſt Karl Schönherr offen-
ſichtlich nicht. Alle dieſe ausgeſprochen männ-
lichen Poeten ackern auf einem harten und
ſteinigen Boden, auf dem nur karge Ernten
gedeihn. Verhältnismäßig ſehr ſpät iſt der
Tiroler überhaupt in ſeine Bahn gekommen;
daß er die erſte Pubertät poetiſch überſchla-
gen hat, redet an ſich ſchon eine deutliche
Sprache; daß er jetzt Alteres bearbeitet, an-
ſtatt nach Neuem zu greifen, ſtimmt ganz
dazu. Es iſt ihm nicht gegeben, mit ſeligen
und übervollen Händen zu verſchwenden. Es
iſt ſeine, des Bauerndichters, Art, dem har-


zuſammenzuhalten. Aber das Beſte, was
ihm ſchwer und langſam zuwächſt, iſt dann
auch ſtark und wetterfeſt.

Über dem „Schuldbuch“ ballen ſich die
Wolken viel düſtrer, als über dem „Merk-
buch“. Schon der Titel ſoll darauf hinweiſen,
daß hier Tragödien geſtaltet werden, daß
hier ein Ankläger ſpricht und mit Verhält-
niſſen, Möglichkeiten und Zuſtänden abrechnet,
die das Konto der Zeit oder der Menſchheit


Faſtenprediger; ſelten und nur für Augen-
blicke ſtreift er die unkünſtleriſche Satire;
immer iſt er der wuchtige Darſteller, deſſen
Ingrimm nicht als unbewachte, freſſende
Flamme zerſtört, ſondern als gefeſſeltes, zu-
rückgedrängtes Feuer gleichſam von innen
heizt und antreibt. Wie ſehr er ſich im Laufe
der Jahre darin gemäßigt hat, lehrt gleich
die erſte Erzählung „Gottes Schwiegermut-
ter“. Mit tragiſchem Humor nennt ſie ſich
ſelbſt ſo, die einſame Mutter, die ihre Kinder
verloren hat und zuſehen muß, wie ihr Neſt-
hockerl, ihr letztes, ihr roſiges Mädl eine
„Braut Chriſti“ wird. Es iſt ein Kloſter
mit ſtrenger Klauſur, in dem die junge Nonne
lebt, und als ſie erkrankt, darf die Mutter
nicht einmal zu ihr. Sie muß draußen blei-
ben, während drinnen ihr Kind mit dem
Tode ringt, ſie darf ihm nicht die Kiſſen
zurechtrücken, und ſchauerlich klingt ihr an-
klagender Jammerſchrei „Ausgeſperrt!“ durch
die kleine Kloſterkirche. In Schmerz und
Ingrimm hatte Karl Schönherr am Schluß


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