Heidelberg, Donnerstag, 1. Juni 1922
Ar. 126 * 4. Jahrgang
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Lloyd George über unsere Erfüllungspnlitik.
England für eine Politik der Mäßigung und gegen eine Sonderaktion Frankreichs. —
Niederlage der reaktionär-kommunistischen Regierungsoppofition im Reichstag.
* Heidelberg, den 1. Juni.
Acht Tage dauert jetzt bereits die Genuadebatte in der sran-
«-Zischen Kammer und Poincare hat Umher noch nicht gesprochen,
trotzdem er sowohl von den Kritikern seines Parlaments, wie ins-
besondere durch die Reden Lloyd Georges und Wirths dazu direkt
herausgefordert wurde. Man geht Wohl kaum fehl, wenn man
dieses auffallende Schweigen Poineares in engen Zusammenhang
bringt mit den Dingen, die zur Zeit in der Reparationsfrage gehen.
Wenn die nachstehende Meldung über die Antwort der Repa-
rationskommisston auf die deutsche Antwort den Tatsachen ent-
spricht, so ist es jetzt durch die Verhandlungen des deutschen Reichs-
finanzministers in Parts tatsächlich gelungen, eine Entspannung
der seit Monaten stark gewitterschwangeren und gefahrdrohenden
Atmosphäre herbeizuführen und das Reparationsproblem wenig-
stens einmal für 1922 fest zu regeln, und zwar auf der Grundlage,
des Abbaues von Cannes von 3/- auf 2,3 Milliarden. Es ist ganz
Aar, daß auch das noch eine ganz unerträgltcheBe-
lastung der deutschen Wirtschaft darstellt, aber das ist ja nun
Ausgabe der Bankierkonferenz, die gestern wieder zusammengetreten
ist, hier weiter den Weg der Erfüllung ökonomisch zu ebner«. Es
ist zweifelhaft, ob diese Bankiers wirklich die Annullierung des
Londoner Zahlungsplanes fordern werden, aber früher oder später
ivird ja darum doch nicht herumznkommen sein. Die ökonomi-
schen Interessen der ganzen Welt drängen immer stär-
ker nach dieser Richtung, sie sind es auch gewesen, die gestern Lloyd
Äeorge neben einer wertvolle» Anerkennung der deutschen Er-
zillungSpolitik so deutlich für eine gemäßigte Reparationspolittk
Eintreten ließen. Nun hat aber PoincarS das Wort! . . .
Es ist Wohl nichts auffallendes, daß gestern im Reichstag
bas dentschnationale Mißtrauensvotum abgelehnt wurde, auch nicht,
baß die Kommunisten sich den Deutschnationalen in treuer Gefolg-
schaft angeschlossen haben gegen die Regierung, für die zu gleicher
Zeit der Kommunist Cachinim Kampfe gegen Poineares Gewalt-
politik eine Lanze gebrochen hat. Bemerkenswert dagegen ist die
Schärfe, mit der sich auch die Bolkspartet gegen die Regie-
rung ausgesprochen hat. Ein neuer Beweis für den Reichskanzler,
baß es zur Zett völlig aussichtslos ist, mtt der Bolkspartet ver-
nünftige Aussenpolitik machen zu wollen. Die Unabhängigen
dagegen haben sich auch diesmal hinter die Regierung gegen die
Opposition der Extreme gestellt.
Die Antwort der Neparationskommifsion.
Parts, 31. Mai. Die Reparationskommisston hielt gestern
eine offizielle Sitzung ab, als deren Ergebnis mitgeteilt
wurde, daß die Entente von der deutschen Antwortnote nunntehr
befriedigt sei und in einer entsprechenden Mitteilung an die
Berliner Negierung das provisorische Moratorium als endgültig
bis zum Ende des Jahres verlängert erklären wird. Damit ist me
Reparativ ns frage, wie immer die Anleiheverhandlungen
verlausen, jedenfalls für 1922 aus dem Wege geschasst und wird
Nicht mehr mit ihren Sanktionsdrohungen, Nuhrbefetzung usw. die
europäische Debatte verschärfen. Das Thema der Ruhrbe-
setzung i st abgesagt; es ist daher eine feststehende Tatsache,
baß man am Quai d'Orsay, dem Amtsbereich Poineares, mit dieser
Regelung nicht zufrieden ist. Aber in diesem Falle bleibt die
Meinung der Reparationskommisston, deren Souveränität Poin-
cars vor ein paar Wochen, als er Lloyd George jede Reparations-
erörterung verweigerte, ausschlaggebend gegen alle Einwände des
unversöhnlichen Lothringers.
Das Londoner Ultimatum muß zurückgezogen
werden.
Paris, 31. Mai. Der A n l e i he a » s sch ü ß, das sogen.
Morgankomtts, das sich bis Mittwoch vertagt hatte, tritt heute um
4 Uhr wieder zusammen, nm die Anleiheberatungen weiterzuführen.
Nach der „Chicago Tribüne" wird der Anleiheausschutz
bei der heutigen Wiedereröffnung der Beratungen die Erklärung
nbgeben, daß das Londoner Reparaiionsultimatum an Deutsch-
la,w vom Mai v. I. unerfüllbar sei und annulliert werden müsse.
Stinnss und Helfferich für Besetzung des
Ruhrgebietes!
Rüpeleien der Rechispartetler.
Die „Freiheit" veröffentlicht einen ausführlichen Bericht
über dw vertrauliche Sitzung des Auswärtigen Ausschusses des
RctchKmgcs am Samstag.
Der ASg. Stinnes (D. Bpt.), der die Pariser Verhandlungen
mrMMgte, erklärte, man dürfe sich nicht immer von der Angst vor
ocr leiten lassen und müsse unter Umständen auch die Bc-
jEtzrm« des Ruhrgebiets mit in Kauf nehmen. Das veranlaßte
neichsMrtschastsminister Schmidt, gegen sine. solchL Auffas-
sung vom Standpunkt der deutschen Gesamtinteressen Einspruch
zu erhoben. Ms Stinnes sich scharf dagegen ivandte, daß man
ihm derartig antwortete, antwortete Genoss« Schmidt, für
Herrn Stinnes möge es ungewöhnlich sein, daß rnan ihm wi-
derspreche, aber er (der Minister) sei nicht der „junge Mann" des
Herrn Stinnes.
Der volksparteMche ASg. Becker bemerkte hieraus, es sei be-
dauerlich, daß ein Minister diesen „unanständigen" Ton in die
Debatte gebracht habe.
Ahg. Crispien (USP.): „Herr Stinnes scheint jetzt ja einen
jungen Mann gefunden zu haben."
Mg. Becker: „Wagen Sie es nicht, diesen Zuruf zu wieder-
holen!"
Alb«. Crispien wiederholt den Zuruf. Swg. Becker wendet sich
aufs neue gegen ihn und meint zum Schluß, auf Minister Schmidt
treffe offenbar das Wort nicht zu: „Wem Gott ein Amt gibt, dem
gibt er auch Verstand dazu." Unverschämtheit dieses VollSparlet-
lers!
Abg. Helfferich (deurschnatl.) meint, man dürfe in der Tat ge-
gebenenfalls die Besetzung des Ruhrgebiets nicht scheuen. MS
Helfferich dann trotzdem die Leiden der Bevölkerung -im besetzte»
Rheinland schilderte, rief ihm der Wg. Dittman» (USP.) zu:
„Und wie hat der deutsche Militarismus in Belgien gehaust?"
Ab«. Helfferich: „Sie stellen sich auf die Seite der Franzosen."
Anruf des Abg. Breitscheid (USP.): „Die waren ja nicht im
Schützengraben, Sie Drückeberger!"
Dr. Helfferich sprang einige Schritte auf Breitscheid zu und
rief: „Ich haue Ihnen eine ekattee'" —
„Unverschämtheit!" — Ahg. Helfferich zum Avg. Brei i scheid:
„Betrachten Sie sich als moralisch geohrfelgt!" — Abg. Graf
Westarp: „Und mit Recht!"
Vergebens mahnt der Vorsitzende, Abg. Hermann Müller
(Soz.), zu parlamentarischem Verhalten Minister Schmidt ant-
wortete noch einmal kurz, daß er die Abgeordneten Helfferich und
Becker als Anstandslchrer adlshnen müsse.
Reichskanzler Dr. Wirth ivandte sich ebenfalls gegen die herab-
lassende Art, wie Minister Schmidt von Seiten der Rechten be-
handelt wurde und wies besonders auf dessen wertvolle Mitarbeit
in Genua hin.
Gins Erweiterung der deuffch-rrrffifchen
Vertrages.
Berlin, 1. Juni. Tschitscherin wird am Freitag in
Berlin eintreffen. Bei dieser Gelegenheit werden die Besprechun-
gen über eine Erweiterung des deutsch-russischen Vertrags ans die
übrigen Sowjetrepubliken und über die notwendig werdenden
Handels- und Konsularverträge wieder ausgenommen werden.
Deutscher Reichstag.
Das deutschnationale Mißtrauensvotum gegen die Stimmen
der Reckst en und Kommunisten abgelehnt.
Berlin, den 31. Mai.
Zunächst wird nach einer kurzen Aussprache der deutsch-
dänische Vertrag betr. Uebergang der Staatshoheit in Nord-
schleswig an Dänemark in 2. »nd 3. Lesung angenommen.
Ein Antrag Becker, sofort irt eine Besprechung der deutschen
Antwort an die Reparattonskommission einzutreten.
Wird nach längerer Geschästsordnungsdebatte schließlich durch An-
nahme eines Antrags Crispien erledigt, wonach sofort eine
Sitzung stattfinden solle, wenn der Reichskanzler weitere Mitteilun-
gen über die Verhandlungen mit der Entente machen könne.
Nach Beratung einiger sozialpolitischer Gesetze folgt die
Abstimmung Wer das deutschnationale Mißtrauensvotum.
Abg. Crispien (U.S.P.) gibt folgende Erklärung ab: Der
Antrag der Deutschnationalen Volkspartei erwähnt mit keinem
Wort sachlich die von der Regierung abgegebene Erklärung. Er
verrät dadurch das nationalistische Agitationsbe-
dürsnis (Gelächter rechts) der Vertreter jener am 9. November
18 gestürzten Mächte, die für den Krieg und den Versailler Vertrag
verantwortlich sind. (Erneutes Gelächter rechts und Zurufe.) Wir
lehnen den Antrag der Deutschnationalen Wolkspartei ab, weil wir
ihrem demagogischen Zielen weder direkt noch indirekt Vorschub
leisten wollen. Wir behalten uns vor, die Regierung über die
Fortführung der Reparattonspolitik zu interpellieren, um alsdann
zu den Verhandlungen der Regierung Stellung zu nehmen.
Mit großer Heiterkeit ausgenommen wird ein Abände-
rungsantrag des Abg. Höllein (Komm.) zum Antrag
Hergt (D.N.), in welchem Rücksichtnahme aus die Interessen der
Arbeiterschaft gefordert wird.
Abg. Hergt (D.N.) gibt nun folgende Erklärung ab: Das
Mißtrauensvotum hat di« vorliegende Fassung erhalten, weil die
von der Regierung in der Reparationsfrage vorbereitete Note
weder im Auswärtigen Ausschuß noch in der Oeffentlichkeit be-
kanntgegeben worden war. Inzwischen ist die Note veröffentlicht
und dadurch klar geworden, weshalb die Regierung sich gescheut
hat, den Wortlaut vorher bekannt zu geb- - Sie wollte den
Reichstag verhindern, dazu Sieu!,..^. nehmen und es
vermeiden, ein Vertrauensvotum vom Reichstag zu verlangen. Di«
Note enthält gegenüber dem bisher bekamrtgegebenen Inhalt wei-
tere unheilvolleZuge st änd Nisse sowohl durch die gründe
sätzliche Annahme der von der Reparationskommisston geforderten
Nachprüfung sowie durch die Anerkennung bestimmter mit det
Souveränität Deutschlands völlig unvereinbarer Einzelbestimmun-
gen. Dadurch erhält unser Mißttauensantrag erhöhte Bedeutung.
Wer will, daß die unglückselige Ersüllungspolitik nicht in der bis-
herigen Weise fortgesetzt werden soll, muß durch Annahme unseres
Antrags die Regierung beseitigen helfen. (Lebhafte Zustimmung
rechts.) Wohin diese Politik-führt, darüber müssen durch die un-
erhörten Zumutungen , der neuen Etsenbahnzerstörungs-
note dem Blindesten die Augen geöffnet werden. Durch die An-
nahme unseres Antrags muß der Weg für eine völlige Umstellung
unserer auswärtigen Politik freigemacht werden.
Abg. Becker-Hessen (D.VP.) gibt folgende Erklärung ab!
Heut« morgen ist die Antwortnote der Regierung an die Repa-
rationskommisston vom 36. Mai durch die Presse bekannt geworden,
nach der die deutsche Regierung anscheinend einer weitgehende«!
fremderc Finanzkontrolle zustimmt. Wir halten eine solche Finanz-
kontrolle für unvereinbar mit der Würde des Deutschs« Reiches.
Da es uns durch den Beschluß des Reichstags unmöglich gemacht
wird, unsere Auffassung in dieser Richtung genauer darzulegen,
bleibt uns als Widerspruch dagegen nichts anderes übrig, als denf
Antrag Hergt znzustimmen. (Stürmischer Beifall rechts.)
Abg. Höllein (Komm.) stellt fest, daß allerdings die Ansicht
der Deutschnationalen anders sei als die der Kommunisten (große
Heiterkeit), es komme aber im parlamentarischen Leben vor, daß
dü Opposition von rechts und links zusammengingen. Eine Bett-
genossenschaft könne man das trotzdem nicht nennen. Vor dem
Lande mutz Protest erhoben werden gegen eine derartige Art und
Weise, wie in der deutschen Republik die demokratischen Grundsätze
mit Fritzen getreten werden. Daher werden die Kommunisten für
den deutschnationalerr Mitztrauensantrag stimmen. (Lebhafter iro-
nischer Beifall bei der Mehrheit.)
Abg. Leicht (Bahr. BP.) erklärt, daß seine Fraktion das Miß-
trauensvotum ablehne. Aus der Ablehnung sei aber kein Präjudiz
zu schaffen bezüglich ihrer Haltung gegenüber der Regierung.
Der kommunistische Abänderungsantrag wird nicht genügend
unterstützt. (Heiterkeit.) Das deutschnationale Mißtrauensvotum
ivird hierauf gegen die Stimmen der Deutschnationalen, der Deut-
schen Bolkspartei und der Kommunisten abgelehnt. (Beifall bei der
Mehrheit.)
Präsident Löbe stellt darauf fest, datz die Tagesordnung er-
schöpft ist und beraumt die nächste Sitzung auf Dienstag, de«
13. Juni, nachmittags 2 Uhr an mit der Tagesordnung: Vor-
lagen zu 8 18 der Reichsverfassung. Falls entsprechend dem Antrag
Crispien vorher eine Mitteilung des Reichskanzlers eingehen würde,
soll eine Sitzung friiber anberaumt werden.
Schluß 2)4 Uhr.
Ausland.
Die Reparajionsrsde Lloyd Georges.
London, 1. Juni. Das Unterhaus hatte sich gestern fast
vollzählig versammelt, als Lloyd George gestern nachmittag auf-
stand, um über die Wiedergutmachungen zu sprechen. Der
deutsche Botschafter wohnte der Sitzung in der Diplomatenloge
bei. Was den Vorschlag angeht, daß die englische Regierung einer
Annulliernng der gesamten Kriegsschulden zustimmen soll, ohne
datz anderseits die englischen Schulden nachgelassen würden, so
meinte Lloyd George, keine Regierung könne einen derartigen Vor-
schlag in Erwägung ziehen. England sei durchaus willens, in
eine internationale Diskussion einzutreten, die den Zweck verfolge,
die Frage der gesamten Weltkriegsschulden zu regeln unter der
Bedingung natürlich, datz nicht nur die Schuldner Englands Er-
leichterungen erhalten, sondern datz auch England Erleichterung
gewährt werde. Lloyd George führte aus:
Er sei sicher, datz die deutsche Regierung eine wirkliche Aw
strengung gemacht habe, um die Wiedergutmachungen zu erfüllen
Die gegenwärtige deutsche Regierung habe ihr Bestes getan und
er glaube, sie werde ehrlich aus diesem Wege fortfahren trotz
aller politischen Schwierigkeiten und infolgedessen habe sie An-
recht auf jede Achtung.
Eine Politik der Nichterfüllung würde ein sofortiges
Unglück für Deutschland sein. Es sei die Rede davon, datz Frank-
reich allein vorgehen werde, wenn Deutschland gegen den Versailler
Vertrag verstoße, doch müsse Frankreich daran denken, datz auch
England den Versailler Vertrag unterzeichnet und ratifiziert habe
und an den Vertrag gebunden sei. Wenn eine Regierung sich
weigern sollte, den Vertrag zu erfüllen, so würde man Frankreich
nicht allein lassen. Alle Unterzeichner müßten und würden gemein-
sam handeln.
Wir treten ein für eine Politik der Mäßigung i« der Erfüllung.
Auch Wenn man dies in Frankreich verkennen sollte, treten wir für
eine Politik der Mäßigung ein. Jedes separate Borgehen eines
Verbündeten würde für die Entente verhängnisvoll sei«.
Nach dem Premierminister ergriff Lord Robert Cecil das
Wort und erklärte, wir müssen Frankreich klar machen, datz es
mehr von Deutschland verlange; als es zahlen könne. Außerdem
sei Offenheit Frankreich gegenüber das beste Mittel,
um die guten Beziehungen wieder herzustellen.