Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Baumeister: das Architektur-Magazin — 6.1908

DOI Artikel:
Thöne, Johannes Franz: Hohe oder niedrige Bauten?, [4]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.52603#0242

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
144

DER BAUMEISTER . 1908, SEPTEMBER.


Musikbühne, Strassenseite. (Siehe Tafel 94.)


Arch. Otto Dietrich, München.

Musikbühne (Vergnügungspark).

keiner sagen, dass etwa der Turm des Münsters zu
Ulm, Deutschlands allerhöchster, schöner wäre als das
Kolosseum oder ein im reinen Renaissan9estil gebautes
Schloss. Wie schon bemerkt, gibt es nur in Germanien
einen Turm im eigentlichen Sinne des Wortes, nur mit den
gotischen Kirchen ist er eigentlich organisch verbunden. In
Italien steht er höchstens als Glockenturm und auch dann nur
als ein recht bescheidenes Gebäude neben der Kirche, die

ist planimetrisch der romanische Rundbogen schöner als der
gotische Spitzbogen, und stereometrisch die Kuppel der
Renaissancebauten herrlicher als der gotische Turm. Kon-
struktionen wie der Tempel des Raffael auf seinem Bilde
der heiligen Familie oder des Tempelchen Bramantes
auf dem Montorio in Rom sind ebenso unüberholbar, wie
die grossartigen weiten in sich selbst zurücklaufenden Bogen-
linien im Innern des Kolosseums.

griechisch-römischen Bauten
kannten überhaupt keinen Turm.
Als Verkörperung der aufrecht
stehenden Linie ist der Turm
ästhetisch verfehlt. Die Renais-
sancebauten ersetzten ihn durch
die wunderschöne Kuppel.
Unangenehm wirken somit
auch die langgezogenen goti-
schen Kirchenfenster. Selbst
wenn man die Hälfte von der
Länge herunternähme, bliebe
oft noch viel zu viel übrig. Schon
der blosse Name „Kirchen-
fenster“ weckt darum im Volks-
munde Gefühl des Unbehagens.
Warum verwendet man für
Kirchen nicht mehr das sich
viel gleichmässiger verteilende,
viel ruhigere und darum viel
schönere Oberlicht, wie im
Pantheon, ganz abgesehen
davon, dass ein Oberlichtfenster
bei gleicher Lichtfülle lange
nicht so gross zu sein braucht,
als ein Seitenlichtfenster.
Mit den hohen Stilen hängt
der gebrochene Bogen eben-
so zusammen, wie mit den
niedrigen der runde. Darum
musste der romanische Stil bei
seiner Höhe notwendig über
sich hinaustreiben zum goti-
schen. Der gebrochene Bogen
muss als Symbol desWider-
sprechenden,Unrichtigen und


Bildhauer Fr. Bernauer, München.

Rübezahlbrunnen auf der Ausstellung 1908.

Allerdings ist auch das
Gotische noch in gewissem
Sinne schön. Es gibt zwei
Linien, auf denen die Lust
fortschreitet, die Freude über
das Schöne und die Freude
über das Seltsame, Absonder-
liche und darum irrtümlicher
Weise für schön Gehaltene.
Der letztere Fall liegt beim
gotischen Stil vor. Er ist
leichter festzustellen und fällt
eher auf, als der erstere und
dies dürfte der Grund für
die so weit verbreitete Be-
liebtheit des gotischen
Stiles sein. Um das Gesagte
noch einmal kurz zusammen-
zufassen: Abgesehen von den
letzteren Bemerkungen über
den runden und den ge-
brochenen Bogen verlangen
wir grundsätzlich Bevorzugung
des liegenden Rechtecks gegen-
über dem stehenden und zwar
sowohl im Aufriss (d. h. das
Längsschiff entsprechend zu
reduzieren).
Dazu ist dies noch ungemein
praktisch. Es gibt nichts Un-
sinnigeres, als die immer wieder
aufgetischte Behauptung, der
griechische Tempel lasse sich
deshalb nicht als Vorbild für
eine christliche Kirche nehmen,
weil er zu unpraktisch dafür sei.

darum Unbefriedigenden stets missfallen. Die schönste Figur
ist der Kreis. Eine gerade Linie hat immer zwei
Enden, ist stets beschränkt, der Kreis dagegen ist Symbol
des Unendlichen. Das Glück besteht letzthin im Wegfällen
jeder Schranke für seine Wünsche, analog verlangt das
ästhetische Gefühl zu seiner Befriedigung ein sichtbares Un-
endliches, den Kreis, den Rundbogen. Schon Aristoteles
setzte die endliche gerade Linie in die sich stets verändernde
Welt unterhalb des wechselnden Monds, die kreisförmige,
ewige in die unveränderliche jenseits dieses Gestirns. Darum

Die modernsten von den modernen Bauten, Eisenkonstruktionen
wie z. B. die neueren Bahnhofshallen beweisen, dass dies höchst
praktisch ist. Inwiefern es dagegen praktisch sein soll, die un-
geheuren Kosten für die absolut nutzlosen hohen gotischen
Wände aufzuwenden, lässt sich schwerlich einsehen. Eine hin-
reichende Lüftung wird man im 20. Jahrhundert bei niedrigeren
Räumen jedenfalls noch besser erzielen können, als im 14. bei
den „hohen Domen“, und als Licht nimmt man das ganz
gleichmässige, keinen Schatten werfende Oberlicht. Wie schön
lässt sich nicht ein solches in einer Kuppel anbringen!

Verlag Georg D. W. Call wey in München. Verantwortlich: Hermann Jansen in Berlin W 35. Druck von Kastner & Callwey in München.
 
Annotationen