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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 18.1926

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Heft 5
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Müller, Valentin Kurt: Karthagische Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.41317#0178

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ägyptische Kunst das Weib ganz anders: mit eng an den Körper sich anschmie-
gendem Gewand, so daß nichts von seiner Modellierung verlorengeht. Dagegen
läßt die gesamte vorderasiatische Kunst den Körper gänzlich unter dem Gewand
verschwinden. In Anlehnung an sie gibt auch die frühe griechische Kunst den
Unterkörper als kubischen Block ohne Modellierung (Abb. 2 und 3).
Das Markanteste an den Terrakotten sind die bunten Borten. Solche Borten
sind ein Charakteristikum der Gewänder in Syrien und im hinteren Kleinasien;
hier haben sie auch die Hethiter, deren Herrenschicht wie die der Perser ein
aus nördlicheren Gegenden stammendes Einsprengsel im Orient darstellt. Ägyp-
tische Gewänder, wenn sie überhaupt bunt sind, und mesopotamische kennen
nur eine einheitliche Musterung, nicht die Aufteilung in rahmende, das Auge
führende Linien und füllende Flächen. Dagegen hat wieder die frühgriechische
Kunst diese Borten übernommen (Abb. 2).
Die Figur aus Karthago zeigt drei wagerechte und drei senkrechte Borten.
Die oberste wagerechte läuft in der Mitte der Oberarme quer über den Körper;
sie geht gleichmäßig über Brust und Arme hinweg, bindet also den Oberkörper
zu einer einheitlichen Masse zusammen, der eigentlichen, natürlichen Struktur
entgegen. Die zweite wagerechte Borte sitzt unterhalb der Ellenbogen. Wenn
überhaupt in der orientalischen Kunst der Antike, diesmal Ägypten eingeschlos-
sen, — auch später für Indien trifft es zu — ein Gürtel benutzt wird, sitzt er
tiefer, etwa an der dicksten Stelle der Hüften, soll also diese betonen. Allein
die hethitische Kunst mit ihren Einflußsphären hebt sich heraus und gibt einen
Gürtel in der Taille. Die unterste wagerechte Borte befindet sich etwa in der
Höhe der Knie und bindet beide Beine zusammen; unterhalb setzen senkrechte
Linien an, die Fransen oder einen plissierten Volant wiedergeben sollen; auch
dies Motiv, das eine Auflockerung des Randes gegenüber der festen Hauptfläche
bedeutet, ist orientalisch, denn die Fransen stammen aus Mesopotamien.
Der Unterkörper ist mit drei senkrechten Borten geschmückt. Eine breite in
der Mitte betont die Achse der Figur; die beiden seitlichen geben einen Rahmen
ab. Die Borten bilden also ein Liniengerüst, zwischen denen füllende Flächen
bleiben, aber der kompakte Block des Körpers ist nun nicht wirklich in ein Ge-
rüst tragender Kraftlinien und gehaltener Flächen aufgelöst, sondern er behält
seine kubische Massigkeit und Undurchdringlichkeit, und die Borten sind nur
äußerlich wie ein Gespinst aufgelegt. Betrachten wir auch die Form der Borten
selbst. Bei der mittleren üben die Hauptwirkung nicht die seitlichen Linien aus,
sondern die Rosetten: das Auge wird nicht durch die Linien emporgeführt, viel-
mehr lasse es die Rosetten an der Stelle haften. Auch bei den seitlichen Borten
geht der stärkere Linienzug nicht von unten nach oben, sondern die kurzen wage-
rechten Striche lenken den Blick nach innen, nach der Mitte der Figur. Über-
haupt geht die Richtung der Linien nicht sowohl von den Füßen zum Kopf,
sondern eher konzentrisch: der Kopf ist geneigt und weist mit dem spitzen Kinn
nach unten, ebenso die Haarsträhnen; vor allem sind die beiden Unterarme nach
innen gerichtet, und das Tamburin in ihren Händen, das charakterisierende Attri-
but — übrigens ein babylonisches Motiv — ist der Mittelpunkt. Herrscht am
Oberkörper die wagerechte Richtung der Borten, so am Unterkörper die senk-
rechte; eine gewisse Tektonik des Aufbaus, indem ein lastender Teil auf einem
tragenden ruht, ist also vorhanden, aber es liegt nichts Energievolles, kein Em-
porstreben in den Formen, dazu ist der Oberkörper zu breit und schwer; auch
die Proportionaltät geht infolge der beträchtlichen Länge des Oberkörpers auf
Gleichgewicht, Spannungslosigkeit, nicht auf Aktivität. Die Standplatte schließt
die Figur von unten her zusammen. Es ist kein festgegründetes Stehen auf
dem Boden, von dem sich die Figur kraftvoll erhebt, sondern mehr ein In-sich-

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