Pablo Picasso
Von OSKAR SCHÜRER / Mit
zwölf Abbildungen auf sechs Tafeln 1
„Car seule la realite, meme bien recouverte,
possede la vertu d’ emouvoir.“
FASZINIERENDE Erscheinung! Umjubelt — geschmäht. Durch zwei Jahr-
zehnte Pol der Moderne in der Malerei, nicht nur in Frankreich. Auf-
brechend aus dumpfer Schwere zu beschwingtestem Lied, — plötzlich vor-
stoßend zu revolutionärer Tat, — jäh absinkend in milden Klassizismus, —
heute Realist im Bildnis, auf der Fläche wuchtiger Dekorateur. Rastloses
Schaffen, das neben Gesten wieder Meisterwerke hinwirft. Blüte reifer Jahr-
hunderte, vom wissenden Gestern schwer erfüllt. Und doch zu neuem Auf-
bruch stets bereit, doch immer die Blüte des Heutigsten pflückend, eh’ er die
Felder niederbrennt, die er verläßt. Leidenschaftsjäh, unerbittlich, Eroberer —
Flüchtling, Träumer — Fanatiker der Tat, heiß Liebender und Verächter! Wer
ist Picasso ?
Man hat Mühe, dies Werk zusammenzusehen. Abrupt wechselt die Aus-
drucksform und wahrlich — das überviele Literaturgerede Um eine jede dieser
Formen hat das Verständnis des Gesamtwerks nicht eben erleichtert. Wer
Picasso an der einzelnen Form zu packen sucht, gleitet aus. Picasso — ob-
gleich fanatischer Former — hat sie zu tief durchschaut, als daß er an ihre
Einzigkeit noch glauben und glauben lassen könnte. Zwischen den Formen,
unter ihnen, treibt sein einheitliches Sehen. In den Vorformen, der spontanen
Bildnerei, sind seine Kemimpulse zu belauschen. Da zwingt unter allen „Pe-
rioden“ hindurch ein immer Gleiches sein Wesen ins Bild: das scharf
Federnde, elanvoll Zuckende, das stoßartig Packende seiner Kontur, das immer
und überall sein Schaffen strafft, ob es nun in zarter Melancholie der frühen
Bilder, ob in Kubistik, ob in Klassizismen es sich entlädt. Darunter der Gegen-
zug: schwere Massigkeit, in die die Form abdumpft, stete Lockung ins form-
lose Nichts, — trübe Folie, gegen die jenes Scharfe sich gleichsam zur Wehr
setzt. Zwischen beiden die schwingende, leis arabeske Linie von Frage und
Traum, süß tröstendes Spiel gelassener Freuden, bindend die Pole, und alle
Zauber der kosenden Farben bergend, die streichelnd sie umflehn. — Dies die
Urlaute Picassistischer Formung, voller Spannung schon sie, das gesamte
Schaffen — in leiser gegenseitiger Variation •— durchziehend.
Und über ihnen die Schicht der Perioden. Auch sie hat man zusammenzu-
sehen, — will man dies Wesen als Einheit erfassen: Wesensseiten, in die sich
dieser Charakter in der Zeit auseinanderlegt. Aus der Grundspannung zittern-
der Lebensangst der Dekadenz, die sich im Stoßartig-Jähen zu kompensieren
trachtet, löst sich zunächst ein dekorativer Zug dieses Wesens, verabsolutiert
sich im Kubismus. In scharfer Reaktion dann der andere Wesenszug: der
klassizistische. Und jüngst — in wiederholter Dialektik — von neuem das
Dekorative. Doch nie in völliger Isolierung. Immer schwingen die andern
latent und leis bestimmend mit. Übersieht man über dem jeweils ausgeprägte-
sten die andern, so zerfällt dies Werk in die unvereinbaren „Perioden“. Sie
gehören zusammen. In ihnen tritt der komplexe, sehr komplizierte Charakter,
wie er sich aus den spontanen Formimpulsen aufdeutete, auseinander in seine
Elemente, löst sie in bestimmten Gestaltungsmoden aus, ohne jemals eines
von ihnen ganz aufzugeben. Die Bedingungen dieses Auseinandertretens, die
besondere Form dieser Folge, muß ein Blick auf die Entwicklung weisen.
1 Reproduktionserlaubnis erteilten Dr. h. c. Reber (Lugano) und D. A. A. (Galerie Flechtheim).
Der Cicerone, XVIII. Jahrg., Heft 23 4 8
757
Von OSKAR SCHÜRER / Mit
zwölf Abbildungen auf sechs Tafeln 1
„Car seule la realite, meme bien recouverte,
possede la vertu d’ emouvoir.“
FASZINIERENDE Erscheinung! Umjubelt — geschmäht. Durch zwei Jahr-
zehnte Pol der Moderne in der Malerei, nicht nur in Frankreich. Auf-
brechend aus dumpfer Schwere zu beschwingtestem Lied, — plötzlich vor-
stoßend zu revolutionärer Tat, — jäh absinkend in milden Klassizismus, —
heute Realist im Bildnis, auf der Fläche wuchtiger Dekorateur. Rastloses
Schaffen, das neben Gesten wieder Meisterwerke hinwirft. Blüte reifer Jahr-
hunderte, vom wissenden Gestern schwer erfüllt. Und doch zu neuem Auf-
bruch stets bereit, doch immer die Blüte des Heutigsten pflückend, eh’ er die
Felder niederbrennt, die er verläßt. Leidenschaftsjäh, unerbittlich, Eroberer —
Flüchtling, Träumer — Fanatiker der Tat, heiß Liebender und Verächter! Wer
ist Picasso ?
Man hat Mühe, dies Werk zusammenzusehen. Abrupt wechselt die Aus-
drucksform und wahrlich — das überviele Literaturgerede Um eine jede dieser
Formen hat das Verständnis des Gesamtwerks nicht eben erleichtert. Wer
Picasso an der einzelnen Form zu packen sucht, gleitet aus. Picasso — ob-
gleich fanatischer Former — hat sie zu tief durchschaut, als daß er an ihre
Einzigkeit noch glauben und glauben lassen könnte. Zwischen den Formen,
unter ihnen, treibt sein einheitliches Sehen. In den Vorformen, der spontanen
Bildnerei, sind seine Kemimpulse zu belauschen. Da zwingt unter allen „Pe-
rioden“ hindurch ein immer Gleiches sein Wesen ins Bild: das scharf
Federnde, elanvoll Zuckende, das stoßartig Packende seiner Kontur, das immer
und überall sein Schaffen strafft, ob es nun in zarter Melancholie der frühen
Bilder, ob in Kubistik, ob in Klassizismen es sich entlädt. Darunter der Gegen-
zug: schwere Massigkeit, in die die Form abdumpft, stete Lockung ins form-
lose Nichts, — trübe Folie, gegen die jenes Scharfe sich gleichsam zur Wehr
setzt. Zwischen beiden die schwingende, leis arabeske Linie von Frage und
Traum, süß tröstendes Spiel gelassener Freuden, bindend die Pole, und alle
Zauber der kosenden Farben bergend, die streichelnd sie umflehn. — Dies die
Urlaute Picassistischer Formung, voller Spannung schon sie, das gesamte
Schaffen — in leiser gegenseitiger Variation •— durchziehend.
Und über ihnen die Schicht der Perioden. Auch sie hat man zusammenzu-
sehen, — will man dies Wesen als Einheit erfassen: Wesensseiten, in die sich
dieser Charakter in der Zeit auseinanderlegt. Aus der Grundspannung zittern-
der Lebensangst der Dekadenz, die sich im Stoßartig-Jähen zu kompensieren
trachtet, löst sich zunächst ein dekorativer Zug dieses Wesens, verabsolutiert
sich im Kubismus. In scharfer Reaktion dann der andere Wesenszug: der
klassizistische. Und jüngst — in wiederholter Dialektik — von neuem das
Dekorative. Doch nie in völliger Isolierung. Immer schwingen die andern
latent und leis bestimmend mit. Übersieht man über dem jeweils ausgeprägte-
sten die andern, so zerfällt dies Werk in die unvereinbaren „Perioden“. Sie
gehören zusammen. In ihnen tritt der komplexe, sehr komplizierte Charakter,
wie er sich aus den spontanen Formimpulsen aufdeutete, auseinander in seine
Elemente, löst sie in bestimmten Gestaltungsmoden aus, ohne jemals eines
von ihnen ganz aufzugeben. Die Bedingungen dieses Auseinandertretens, die
besondere Form dieser Folge, muß ein Blick auf die Entwicklung weisen.
1 Reproduktionserlaubnis erteilten Dr. h. c. Reber (Lugano) und D. A. A. (Galerie Flechtheim).
Der Cicerone, XVIII. Jahrg., Heft 23 4 8
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