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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 18.1926

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Heft 8
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Dreyfus, Albert: Pariser Ausstellungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.41317#0277

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Pariser Ausstellungen
Die Retrospektive der Independants im Grand Palais / Die Jahresausstellung der Independants
im Palais de Bois / Pariser Kunstsalons: Marcel Gromaire / Boyer / SuzanneRoger j Braque
ES ist kein geringer Ruhm für die „Independants“, daß diese Gemeinschaft mit der
Retrospektiven ihrer Mitglieder einen Abriß der Geschichte der französischen
Kunst der letzten dreißig, vierzig Jahre zu geben vermag. Nur wenige Namen fehlen,
wie Renoir, Monet, Picasso, Braque; dafür sind sie aber an den Wänden in den mannig-
fachsten Abarten greifbar.
Das Urteil wird hier bestätigt, daß weder Rompreisträger, Akademie, Ecole des Beaux-
Arts noch das ganze von ihnen abhängige Künstlerheer auch nur eine der Schlachten
schlugen, die der modernen französischen Kunst ihre Stellung in der Welt gesichert
haben, vielmehr wird wieder einmal offenbar, daß die Independants und ihre Freunde
durch ihre Neuerungen die Tradition nicht untergruben, sondern berufen waren, sie
fortzusetzen.
Welche Aufmunterung für die Jungen, sich den großen Toten beigesellen zu können!
Die Retrospektive bietet nicht nur einen Rückblick auf das Vergangene, sondern auch
eine ziemlich lückenlose Schau über das Wesentliche der letzten Zeit.
Cezanne und der douanier Rousseau dominieren in ihrer Glorie; Cezanne,
mit dessen Lehre, Aufbauen mit Tönen, ein jeder, der nach ihm kam, sich irgendwie
auseinandergesetzt hat; — Rousseau, rein und klar wie ein Gebirgsee, scheinbar ohne
Zu- und Abfluß. Ähnlich einsam und mit eigenem Weltbild: Rouault. — So verschie-
denartige Originalitäten wie Lautrec, Modigliani, Van Gogh, Odilon Redon,
de la Fresnaye haben zu den Independants gehört und sind, wenn auch nicht immer
zureichend vertreten, durch Sonderausstellungen geehrt. Matisse ruft eine entschei-
dende Phase seiner Entwicklung in Erinnerung. Seine abstrakten, jetzt ziemlich nüch-
tern anmutenden dekorativen Arbeiten aus den Jahren 1911—13, da er als der wildeste
unter den „fauves“ galt, sind eine programmatische Lossagung vom Impressionismus,
der hier auch in seinen letzten Erschöpfungszuständen: Bonnard, Roussel, Vuil-
lard vertreten ist. Matisse ist es auf dem harten Weg der Selbstdisziplin gelungen, von
der Zufallserscheinung loszukommen, und er ist nicht wie Van Gogh, sich vergeudend,
von seiner eigenen Flamme verzehrt worden.
Dieser Vorgang: Disziplinierung der schöpferischen Kräfte, Unterordnung der Pvla-
terie unter einen organisatorischen Willen, wiederholt sich bei vielen zeitgenössischen
Künstlern, so bei Segonzac, bei Derain. Er charakterisiert die Hauptkunstrichtungen
der neuesten Zeit, den Kubismus eines L6ger, den Konstruktivismus eines Met-
zinger, den Simultanismus eines Delaunay.
Das Straffwerden der Form bedeutet keine Rückkehr zum Klassizismus, v/ie die nach
dem Krieg gemalte südliche Landschaft Derains beweist, die er mit einer Landschaft
von Pecq aus seinen Anfängen konfrontiert, wo er die Bäume noch rot wie ein echter
„fauve“ gemalt hat. Welche Spannweite, welche gewaltige Arbeit an sich selbst von
diesen eiligen, zerhackten Farbtupfen bis zu dieser edlen Ruhe und Überlegenheit!
Diese Gestaltungsart entspricht dem Ordnungsbedürfnis unserer Zeit im Gefolge all
der geistigen und materiellen Zusammenbrüche des 19. und 20. Jahrhunderts und läuft
dem, was man jetzt in Deutschland „Neue Sachlichkeit“ nennt, parallel.
Im letzten Saal der Retrospektive hängen vier der markantesten unter den Jüngeren
zusammen: Lhote, Gromaire, Chagall, Favory. Bei allen Vieren bekundet
sich dieser Trieb zur Verfestigung, zur Gliederung und Vereinfachung. Bei Lhote be-
deutet er freilich eine Gefahr. Er neigt zum theoretischen Zerspalten und zu einer zu
kritischen Zügelung des Temperaments. Es sieht aber aus, als ob er die Zeit der Vor-
arbeit hinter sich habe. Ein Maler muß malen, wie ein Geiger musiziert, der nicht
mehr Kadenzen auf einem stummen Instrument einübt, sondern den edelsten Ton aus
der edelsten Geige herausholt.
Gromaire scheint mir formal am weitesten gekommen zu sein. Er verbindet zeich-
nerische Kraft mit Wohlklang der Farbe; sein Frauenporträt ist ein festgefügtes, aus-
gezeichnetes Stück Malerei. Favory ist mit seiner Jordaensschen Freude an der sinn-
lichen Erscheinung ein Gromaire entgegengesetztes Malertemperament. Seine Bilder
sind wie explosive Entladungen, aber trotz dieser Schnelligkeit im schöpferischen Akt
sind seine Bilder erstaunlich organisiert. Favory hat etwas von Corinths zupackender
Vitalität. Er hat eine reiche, warme Palette, aber sein Geschmack entbehrt noch der
Läuterung. Chagall wirkt unter den Franzosen als Outsider, aber er gehört in die Zeit
wie sie. Seine Gemälde sind voller Einfälle wie orientalische Märchen, doch kommen sie
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