Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 18.1926

DOI Heft:
Heft 8
DOI Artikel:
Dreyfus, Albert: Pariser Ausstellungen
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.41317#0278

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
so präzis zum Ausdruck wie die eines Goya. Seine Phantasien erzählen manches von
der Epoche, aus der sie stammen. Auf einem Bild von ign tanzt ein Kopf umgekehrt
auf den Schultern. Nach den peinlichen Geschehnissen im letzten Dezennium läßt sich
nicht mehr so leichthin phantasieren, und auf einem Blumenbild von 1925 wird das
Einlenken zu Maß und Sammlung deutlich.
An Plastik bietet die Retrospektive nur wenig. Eine Gedächtnisausstellung Lucien
Schneggs wäre zu nennen. Seine Kinderköpfe haben eine reine Form, eine dem Klas-
sischen zustrebende Gleichmäßigkeit. Es mangelt ihnen aber die plastische Energie
eines Despiau.
Die Independants haben außer der Retrospektive im Grand Palais auch ihre Jahres-
ausstellung im „Holzpalast“ an der Porte Maillot. 3700 Werke, 600 erstmalige Aus-
steller, aber nur 10 Notausgänge. Man hat es durchweg nur mit unbekannten oder neuen
Namen zu tun, da sich die Alteingesessenen, die Führer, die sich ohnehin in der Retro-
spektiven genügend vertreten dünkten, ostentativ fern hielten; sie wollten nicht den
Majoritätsbeschluß akzeptieren, demzufolge nicht nach Gruppen, sondern nach alpha-
betischer Ordnung gehängt wird. Dort die Apotheose, hier die Krise. — Man muß dem
erfahrenen Präsidenten Signac beipflichten, der nicht an dem Fundament der Gesell-
schaft rütteln lassen will. Gleiches Licht, gleicher Raum für alle. Wenn einer hier
mehr Recht hat, so ist es nicht der Künstler, der sich durchgearbeitet, seinen Kunst-
händler und seine Coterie gefunden hat, sondern der Anfänger, der zum: erstenmal sein
Werk mit der Öffentlichkeit konfrontiert. Sind die besten Plätze besetzt, wird er von
Künstlern, die eine Gruppen- oder Interessengemeinschaft bilden, an die Wand gedrückt,
so ist er tot, ehe er richtig lebendig war. Die Frage ist freilich die, gibt es noch solche
Anfänger, deretwegen diese Statuten der Independants verlohnen? Fänden sich unter
diesen 600 Neulingen nur zwei, ja nur ein starkes Talent, so müßte man den Indepen-
dants dankbar sein, auch wenn sie dem suchenden Kritiker in der kilometerlangen Saal-
flucht dieser Ausstellung das Geschäft noch so erschweren. Mir ist kein überraschender
Neutöner aufgefallen, aber vielleicht taucht ein solcher nur jedes zweite Jahr auf; auch
das würde genügen. Die Independants werden verschwinden, wenn der Nachwuchs
ausbleibt oder abstirbt. Eine Änderung ihrer Statuten aber wäre bestimmt ihr Todesurteil.
Unter den Jüngeren, die im Laufe des Winters in Pariser Kunstsalons ausstellten,
erweckten die 43 Arbeiten, die Marcel Gromaire als Belege eines siebenjährigen
schrittweisen Aufstiegs bei Barbazanges zeigte, das meiste Interesse. Ein robustes
Talent mit eigenen Gestaltungsmitteln. Er drückt sich, uns und unsere Zeit aus. Beim
ersten Anblick haben seine Bilder etwas Klotziges, Widerborstiges; bald aber bemerkt
man, daß eine sehr überlegte, dem modernen Bedürfnis nach Beruhigung und Gleich-
gewicht entsprechende Bildorganisation dahinter steckt, und man gerät in den Bann
seiner tiefen, schweren, wie Kirchenfenster glühenden Farben.
In der Galerie Bing wird erstmalig eine Kollektion des von Wilhelm Uhde patro-
nierten Malers Boy er ausgestellt, der früher pommes frites an einer Straßenecke im
Montmartre verkaufte. Kein Künstler vom Rang des wahrhaft primitiven, intuitiven,
unbeirrbaren Zöllners Rousseau, aber gute Rasse. Er tritt mit Liebe und Unbefangen-
heit und sicherem Instinkt für die Farbe an die Dinge heran; sein Empfinden freilich
wurzelt noch in der Romantik, seine Technik im alten Impressionismus.
Die Galerie Simon (Kahnweiler) bietet eine Kollektion der 26 jährigen S uz an ne
Roger. In der violettschwarz-weißen Monotonie ihrer Werke bekundet sich eine be-
fremdliche Abkehr vom Leben, eine mittelalterliche Einkehr in sich selbst. Carri&re ent-
sagte der Farbe wegen einer Augenkrankheit, warum aber sperrt sich Suzanne Roger
gegen die Farbe, mit der doch mancherlei auszudrücken ist, was dem Schwarz-Weiß
allein nicht gelingt? Ihre Gewässer und Blumen sehen nach Styx und Asphodelos aus;
ihre Menschen nach Mondbewohnern. Man möchte, daß Suzanne Roger unter uns
heimisch wird, sich in unsere Zeit einwächst. Aber man muß mit solchen Wünschen
vorsichtig sein: es gibt auch Künstler, denen die Zeit nachwächst.
Die B r a q u e ausstellung bei Paul Rosen b erg ist etwas Erlesenes für Fein-
schmecker. So richtet kein Maler der heutigen Generation seine Leinwände an. Nirgends
findet man ein so obertoniges Kobaltblau oder Grün oder Violett auf einer Folie von
Braun und Grau, ein so suggestiv ausgespartes Weiß. Braque malt seine Stilleben, wie
ein Gärtner seine Rosen oder Tomaten zieht: nur die Blätter und Triebe dürfen stehen
bleiben, die die reichste Entfaltung der Blüte, die herrlichste Rundung der Frucht ge-
währleisten. Braques Gemälde muten an wie die nerverstreichelnde Musik eines De-
bussy, eines Ravel. Nur feine, aber nirgends gelockerte Umrisse; keine langatmigen
Melodien, kein Austosen psychologischer Gewitter. Die moderne französische Musik
hat die gleichen Sequenzen, Modulationen, die zarten und doch innerlich festen Ton-
gebilde mit Pausen wie das Braquesche Weiß. Albert Dreyfus.
2Ö2
 
Annotationen