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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 18.1926

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Heft 22
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Avermaete, Roger: Der Graphiker Frans Masereel
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https://doi.org/10.11588/diglit.41317#0765

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den Augen der Nachwelt leben werden, was immer dem literarischen Werk be-
schieden sein mag.“
Nicht zufrieden mit dieser Arbeit, die dem Lebenswerk manches Künstlers
genügen würde, spricht er mit Gelassenheit von 150 Stöcken, die er für die
deutsche Ausgabe des „Till Eulenspiegel“ von Charles de Coster entwirft. Der
lustige Till, die beste Personifikation flandrischen Geistes, kann keinen besseren
Interpreten finden. Dieses Buch ist bei Kurt Wolff erschienen.
Zum Schluß muß man, um nicht unvollständig zu sein, Rückschau halten,
um andere Illustrationswerke anzugeben, vor allem für die deutschen Über-
setzungen von Charles-Louis Philippe und Auguste Vermeylen, für ein Buch
von Stefan Zweig und für andere Ausgaben du Sablier: Barbusse, Verhaeren
und Maeterlinck (für des letzteren Werk: „Le tresor des humbles“ hat er eine
rein dekorative Illustration von großer Originalität gemacht).
Ein kleines Album von acht Bildern: „Visions“, das einzige in seinem Hei-
matlande publizierte Werk, sei hier noch erwähnt.
Man bleibt überwältigt von der erstaunlichen Macht des Masereelschen
Schaffens. Angesichts der Kühnheit gewisser Vereinfachungen haben sich
seine aufrichtigsten Bewunderer mit Recht fragen können: Läuft er nicht Ge-
fahr, in einer Formel zu erstarren? Nachdem er das gefunden, wird er anderes
finden? In der Tat, er hat nie aufgehört, anderes zu finden. In jedem neuen
Werk erkennt man Einzelheiten, die jene überreiche Fähigkeit der Neuerfin-
dung offenbaren.
Das Erstaunlichste ist, daß Masereel noch Zeit findet, sich andern Arbeiten
hinzugeben. Er ist Maler, Zeichner und Lithograph. Ich habe ihn als Theater-
dekorateur am Werke gesehen. Er hat Zeugpuppen gemacht und beschäftigt
sich mit Keramik. Aber darüber sprechen, führt zu weit, sein graphisches Werk
allein beschäftigt uns hier. Seine Lithographien unterscheiden sich im Stil
nicht von seinen Tuschzeichnungen, aber seine Zeichnungen verdienen, daß
man bei ihnen verweilt. Er hat in Deutschland einen „Grotesk-Film“ ven-
öffentlicht, ein kleines Büchlein von ziemlich hellseherischem Geiste. Er be-
dient sich darin einer Technik ohne Anordnung, die sich der Art gewisser
deutscher Expressionisten nähert. Ebenso ist es mit der Folge der „Loufoc
City“, die in einzelnen Bildern in „Vanity Fair“, einer amerikanischen Zeit-
schrift, erschienen ist. Das sind seltsame Visionen einer ganz modernen Hölle.
Von den gotischen Meistern hat er die Gesundheit und die Herbheit, jene
Freude an der Arbeit und jenen Sinn für die Werke hohen Ausmaßes, so
typisch für die Erbauer der Kathedralen. Masereel ist ein Primitiver unserer
Zeit, wie die Gotiker die Primitiven ihrer Zeit waren; nicht in dem Sinne, in
dem gewisse Künstler es verstehen: nämlich so, daß sie ihre eigene Fähigkeit
durch die ängstliche Nachahmung der alten Primitiven zu vergessen suchen.
Nein, ein wirklicher Primitiver sein, heißt ein neuer Mensch sein, ein Mann
seiner Zeit, der die Sprache seiner Zeit spricht und der mit den Materialien
seiner Zeit ein Werk nach seinem Bilde schafft!
Übers. K-

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