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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 6.1931

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Schmidt, Walther: Um die Herkunft der Form
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https://doi.org/10.11588/diglit.13708#0016

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Eine Theorie, die einen Augenblick großer, ja revo-
lutionärer Wirkung besaß, und deren Richtigkeit uns
heute schon fragwürdig erscheint, ist der von einer
Gruppe moderner Architekten und ihrer Gefolgschaft
behauptete Satz, das neue Bauen gehe aus durch-
aus rationalen Gründen hervor, aus Zweck, Konstruk-
tion. Technik. Wirtschaft, sozialer Struktur unserer
Zeit. Das Bauen sei bestrebt, die diesen Voraus-
setzungen entsprechende Form zu schaffen: die
Form sei die Funktion der rationalen Gegebenheiten.

Diese Auffassung ist eine verspätete Frucht der
Geisteshaltung, die zu der rein materialistischen Ge-
schichtsbetrachtung führte. Der Geschichtsmate-
rialismus kennt nur Gründe von Ursache und Wir-
kung, alle Zusammenhänge sind rational erfaßbar,
logisch beweisbar, alle Ursachen können addiert
werden, da sie aus gleichen kausalen Elementen be-
stehen, es herrscht das Gesetz der Menge, der Zahl,
der Quantität, und der Ablauf der Dinge ist ein un-
geheurer Mechanismus. Diese rein kausale Betrach-
tung ist heute geschichtsphilosophisch längst über-
wunden. Wir wissen, daß hinter den Mechanismen
der kausalen Abläufe Impulse der Zeit, des Schick-
sals stehen, die an den Zeitwenden die Kausalzu-
sammenhänge einleiten und sich ihrer während des
Verlaufes der geschichtlichen Epochen bedienen,
um sich in der Linie stilistischer und kultureller Ent-
wicklungen zu verwirklichen. Das Wissen um diese
Impulse liegt nicht auf logischer Ebene. Sie sind
nicht rein logisch beweisbar, auch nicht widerlegbar:
ihre Annahme erweist sich der vertieften Geschichts-
betrachtung als unumgänglich. Diese Impulse der
Zeit können nicht aufgespalten und addiert werden,
sie sind hierarchisch geordnet; ihr Gesetz ist das
der Auslese, der Qualität, und der gesamte Ablauf
der Dinge ist ein ungeheurer lebendiger Organismus,
in diese organische Betrachtung geht die kausal-
mechanistische Betrachtung als der Spezialfall ein.
der die Zeit als Schicksal vernachlässigt.

Wenn eine geistige Richtung sich verbreitert,
wenn ihr ..Anwendungsgebiete" erwachsen (oder zu-
wachsen) und ihr Lehrstühle und Museen errichtet
werden, so darf man beinahe annehmen, daß die
Spitze der geistigen Entwicklung schon woanders
steht. Aber man muß sich doch fragen, wieso die
Geisteshaltung, die den Geschichtsmaterialismus
hervorbrachte, eine Begründung des neuen Bauens
zu gerade der Zeit liefern will, in der dieser Ge-
schichtsmaterialismus in der Spitze schon gebrochen
ist. Man muß sich diese Frage um so mehr vorlegen,
als auch auf anderen Gebieten die ideelle Fun-
dierung neuer Gestaltung beträchtlich hinter dem
Gange der allgemeinen geistigen Entwicklung nach-
hinkt. Man beachte nur den schlichten Glauben an
den Fortschritt der Menschheit, der sich im Pro-
gramm der geplanten Werkbundausstellung „Die
Neue Zeit" ausspricht.

Wenn man dem Impuls, der zum neuen Bauen
führte, eine Bezeichnung geban will (die natürlich nur
symbolhaft zu gebrauchen ist), so wird man von
einem ..überpersönlichen Formwillen'1 sprechen. Die-
ser überpersönliche Formwille, an dem der einzelne
nur teilnimmt, braucht dem einzelnen nicht als Wille
bewußt zu werden, er kann sich auch als Gefallen
an der neuen Form, als Überzeugung ihrer Richtig-
keit äußern. Der überpersönliche Formwille geht auf
die Ganzheit der Form, den Einklang von innen und

außen. Er ist der Gegensatz jeder spielerischen
Formabsicht, er meint die Form als Notwendig-
keit, als gültigesSymbo), als Stil. Er suc^t
die Totalität einer Epoche in der inneren Einheitlich-
keit ihrer Formäußerungen darzustellen und ist so
der erklärte Feind jedes Formalismus, d. h. jeder
äußerlichen Anwendung von Formen, die aus ein-
seitigen oder fremden Voraussetzungen kommen, sei
es nun aus dem Barock oder aus dem Maschinenbau.

Das rationale Denken sagt, die Form sei aus den
äußeren Gegebenheiten bestimmt. W i r sehen heute
in allen Äußerungen des Menschen Einzelzüge zu
dem Gesicht der Epoche, uns sind Wissenschaft,
Technik, Wirtschaft Betätigungsfelder des Men-
schengeistes genau so wie etwa die Kunst. Alle
Lebensvorgänge hängen innerlich zusammen, der
Geist schafft sich weitgehend seine Umwelt selbst.
So schafft sich auch der überpersönliche Formwille
die materiellen Bedingungen zu seiner Verwirklichung
oder aber, sie erwachsen aus dem gleichen Grunde,
aus dem auch e r kommt. Um sich zu realisieren, er-
findet der überpersönliche Formwille neue Methoden,
neue Konstruktionen,Techniken, er benützt alte Mittel
im neuen Sinn und er vergewaltigt schließlich auch
Techniken, die sich ihm widersetzen. Aus der ab-
seits liegenden Erfindung eines Gärtners macht er
eine Konstruktion, die es ihm erlaubt, sich zu ver-
wirklichen, — den Eisenbeton. Er macht, daß ihm
zuliebe ein niederes Einfamilienhaus in Stahl kon-
struiert wird, trotz der hohen Kosten und der man-
nigfachen Schwierigkeiten.

Wir fragen uns also, warum behaupten nun der
Architekt und sein schreibbeflissener Gefolgsmann,
daß dieses Haus aus Gründen der Wirtschaftlichkeit,
der Konstruktion, der Zweckmäßigkeit so gebaut
worden sei? Wo doch jeder Fachmann wenigstens
insgeheim weiß, daß man diese Dinge so und so
rechnen kann, je nach dem gewünschten Endergeb-
nis. Denn man setzt stets rechnerisch nicht exakt
bestimmbare Größen (z. B. den Wohnwert großer
Aussichts- und Sonnenfenster, den Vorzug leicht aus-
wechselbarer Wände) je nach der Gefühlswertung in
die Rechnung ein. Warum hält man also rationale
Begründungen von Zweck und Konstruktion für eine
bessere Rechtfertigung für sein Tun als das Ethos
eines überpersönlichen Formwillens?

Aufgaben der neuen Gestaltung müssen meist mit
dem Willen und Einverständnis von Menschen durch-
geführt werden, die „auf dem Boden der Tatsachen"
stehen: vor dem Bauherrn, dem Auftraggeber, dem
Finanzier gelten meist nur kausale Gründe, ideelle
Gründe nur, soweit sie rational auswertbar sind.
Auch der Architekt ist oft „ein Mann der Praxis". Der
neue Formwille kann in ihm unbewußt lebendig sein:
die Begründungen, die er für seine Absichten
braucht, entnimmt er jedenfalls den nächstliegenden
Gegebenheiten — im konkreten Einzelfall wirklich
die beste Methode. Das ist das Eine.

Sodann: Die Betonung von Zweck, Konstruk-
tion. Material war der Kernpunkt der Kampfansage
gegen die vorhergehenden alten Formen. Diese
alten Formen, von den historizierenden bis zu
denen des Jugendstils, hatten das gemeinsam,
daß sie nicht aus der Gesamtheit des Bauorga-
nismus hervorgingen, sondern einem beliebigen
Kern äußerlich zugefügt waren; der Schwerpunkt
des Interesses lag bei der Gestaltung der Fas-

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