als die Qualität bezeichnen kann, die angibt, wie
stark sich der überpersönliche Formwille im Werk
manifestiert. Hier scheinen sich diese Gedanken
mit dem Wort von der ..Qualität des Geistes" zu
berühren, durch das Riezler die Stuttgarter Werk-
bundversammlung erzürnte.
Das Bedürfnis, die neue Gestaltung aus rationalen
Gründen abzuleiten, hat auch dazu geführt. Fragen
der Gestaltung mit Weltanschauungen und politi-
schen Bewegungen zu verquicken. Freilich kann
keine Seite des Lebens für sich stehen. Und so ist
auch die neue Gestaltung Teil einer neuen Welt,
heute noch Vorläuferin einer neuen Welt. Religiöse,
politische, soziale Umwertungen, die der Gestaltung
erst tiefste Inhalte geben, werden ihr dann folgen,
wenn auch hier ein überpersönlicher Wille durch-
stoßen wird. Die Gebiete der Gestaltung sind viel-
leicht deshalb früher befähigt, einem neuen über-
persönlichen Willen Raum zu geben, weil die Bin-
dungen und Hemmungen durch Intellekt und persön-
lichen Willen geringer sind als auf den Gebieten
weltanschaulicher, politischer und sozialer Bewe-
gungen. W i e die Formen einer zukünftigen Welt,
auch der zukünftigen Gestaltung, sein werden, das
heute zu untersuchen, ist müßig. Die gegenwärtigen
sozialen und politischen Bewegungen tragen jeden-
falls noch nicht so eindeutig wie die neue Gestal-
tung die Prägung des Neuen, sie sind vielleicht mehr
noch Formen des Absterbens einer alten Zeit als
der heraufkommenden neuen Zeit, als daß der
autochthone überpersönliche Formwille ihnen zu-
geordnet werden könnte. Zuordnungen können nur
auf gleicher Ebene vorgenommen werden, unter
Größen gleichen Ranges. Sonst leidet die Größe
des höheren Ranges.
Noch einmal sei es mit allem Nachdruck gesagt:
Diese Ausführungen wollen nicht für einen neuen
Formalismus sprechen und nicht für die Auferwek-
kung von irgendetwas Vergangenem. Im Gegenteil.
Sie wollen daran erinnern, daß Form mehr ist als
das visuelle Endergebnis ökonomischer, tech-
nischer, soziologischer Vorgänge. Form ist Ziel.
Form ist mehr als ein Letztes, sie ist — heute be-
sonders — ein Erstes.
„WAS IST MODERN?"
Auszüge aus einem Vortrag von Roger Ginsburger. Gehalten bei Eröffnung einer Ausstellung französischer Typenwaren in Basel am
24. September 1930
--Da ich nun aber nicht wissen konnte, wie Sie,
meine Damen und Herren, über unsere Bestrebun-
gen denken, habe ich zum Thema meines Vor-
trags Ausführungen genommen, welche im Juni die-
ses Jahres auf der Tagung des Deutschen Werk-
bundes von Professor Dr. J. Frank in Wien gehalten
wurden.
Viele Dinge in diesem Vortrag waren richtig und
trafen gewisse Strömungen der Architektur und des
Kunstgewerbes, welche sich in Mitteleuropa für mo-
dern ausgeben. Anderes aber scheint mir genau das
auszudrücken, was man uns zu Unrecht vorwirft
und was mir. der ich diese Dinge allerdings nur nach
Artikeln aus Zeitschriften beurteilen kann, wie der
Ausdruck einer Reaktion erscheint, die man in Wien
und Berlin und vielleicht auch hier den neuen Ideen
entgegenstellt.
Das Wort, das Professor Frank mehrmals verwen-
det und das wohl am bezeichnendsten ist für diese
Reaktion, ist das Wort ..niedrig-praktisch".
Man kann eigentlich gegen dies Wort gar nicht
viel sagen, denn es ist der Ausdruck einer ganzen
Weltanschauung, die man kaum jemandem mit an-
deren Worten nehmen kann, wenn er nicht selber
schon auf dem Wege ist. sie zu überwinden. Es ist
die Weltanschauung, für die es zwei Arten von Din-
gen gibt: die körperlichen und die geistigen, die
sinnlichen und die seelischen, das Niedrig-Prakti-
sche und das Hohe-Zwecklose.--—
Nun frage ich Sie. meine Damen und Herren,
haben Sie sich schon einmal eine große Tuchschere
angesehen? Haben Sie empfunden, wie aus solch
einem Werkzeug die Vernunft von Generationen von
Handwerkern herausspricht, welche aus einer gro-
ben Urform, vielleicht zwei Stielen, die man mit der
Hand zusammendrückte, sich diese verfeinerte Form
herausgebildet hat, in der jede Kurve, jede Kante,
jede Materialstärke einen Sinn hat.
Ich frage Sie, wirkt nicht der Anblick dieses Werk-
zeugs auf Ihre Psyche? Gibt Ihnen dieser niedrig-
praktische Gegenstand nicht einen Eindruck, den
wir mit Gefühl der Schönheit bezeichnen?' Ich frage
Sie weiter, ist eine Brücke, die ohne jede künst-
lerische Absicht, aber mit einer vollkommenen Be-
herrschung der statischen Gesetze gebaut ist, nicht
schön? Fühlen Sie nicht die Spannungen, die in ihr
vorgehen und die nichts anderes sind als der Kampf
zwischen der brutalen Kraft der Erdanziehung und
der siegreichen Vernunft des Menschen. Ist diese
Vernunft, die doch nur im Dienste eines praktischen
Zieles steht, nur niedrig-praktisch?
Doch hier antwortet mir derjenige, welcher an die
Dualität der Dinge glaubt, daß eben die zweckhaften
Dinge, welche in uns einen Eindruck, einen seeli-
schen Eindruck, sagt er, auslösen, von Menschen
geschaffen seien, welche den ..nötigen Funken"
haben, das notwendige Gottesgnadentum, oder
wenn er trotz seiner dualistischen Weltanschauung
weniger religiös veranlagt ist, die Schöpfer dieser
Dinge hätten eben das ,,Gefühl für Form".
Doch versuchen wir zu erkennen, wo gewisse
dualistische Vorurteile ihren Ursprung haben. Da
ist z. B. das „Schöpferisch-Künstlerische", welches
man in Gegensatz stellt zu dem „Vernünftig-Rech-
nerischen".
Die Ingenieure selber werden uns nichts darüber
sagen können, wenn sie nicht zufällig ihre eigene
Arbeitsweise und ihren Entwicklungsgang zu analy-
sieren verstehen.
Wie geht der Ingenieur vor, der eine Brücke baut?
Bevor er zu zeichnen und zu rechnen anfängt, nach-
dem er aber schon genau über die Bodengestaltung
und Beschaffenheit des künftigen Bauplatzes Be-
scheid weiß, sieht er zuerst die ungefähre Brücken-
form, von der er ausgehen wird und die er nachher
durch Berechnungen in den Details wenig oder stark
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stark sich der überpersönliche Formwille im Werk
manifestiert. Hier scheinen sich diese Gedanken
mit dem Wort von der ..Qualität des Geistes" zu
berühren, durch das Riezler die Stuttgarter Werk-
bundversammlung erzürnte.
Das Bedürfnis, die neue Gestaltung aus rationalen
Gründen abzuleiten, hat auch dazu geführt. Fragen
der Gestaltung mit Weltanschauungen und politi-
schen Bewegungen zu verquicken. Freilich kann
keine Seite des Lebens für sich stehen. Und so ist
auch die neue Gestaltung Teil einer neuen Welt,
heute noch Vorläuferin einer neuen Welt. Religiöse,
politische, soziale Umwertungen, die der Gestaltung
erst tiefste Inhalte geben, werden ihr dann folgen,
wenn auch hier ein überpersönlicher Wille durch-
stoßen wird. Die Gebiete der Gestaltung sind viel-
leicht deshalb früher befähigt, einem neuen über-
persönlichen Willen Raum zu geben, weil die Bin-
dungen und Hemmungen durch Intellekt und persön-
lichen Willen geringer sind als auf den Gebieten
weltanschaulicher, politischer und sozialer Bewe-
gungen. W i e die Formen einer zukünftigen Welt,
auch der zukünftigen Gestaltung, sein werden, das
heute zu untersuchen, ist müßig. Die gegenwärtigen
sozialen und politischen Bewegungen tragen jeden-
falls noch nicht so eindeutig wie die neue Gestal-
tung die Prägung des Neuen, sie sind vielleicht mehr
noch Formen des Absterbens einer alten Zeit als
der heraufkommenden neuen Zeit, als daß der
autochthone überpersönliche Formwille ihnen zu-
geordnet werden könnte. Zuordnungen können nur
auf gleicher Ebene vorgenommen werden, unter
Größen gleichen Ranges. Sonst leidet die Größe
des höheren Ranges.
Noch einmal sei es mit allem Nachdruck gesagt:
Diese Ausführungen wollen nicht für einen neuen
Formalismus sprechen und nicht für die Auferwek-
kung von irgendetwas Vergangenem. Im Gegenteil.
Sie wollen daran erinnern, daß Form mehr ist als
das visuelle Endergebnis ökonomischer, tech-
nischer, soziologischer Vorgänge. Form ist Ziel.
Form ist mehr als ein Letztes, sie ist — heute be-
sonders — ein Erstes.
„WAS IST MODERN?"
Auszüge aus einem Vortrag von Roger Ginsburger. Gehalten bei Eröffnung einer Ausstellung französischer Typenwaren in Basel am
24. September 1930
--Da ich nun aber nicht wissen konnte, wie Sie,
meine Damen und Herren, über unsere Bestrebun-
gen denken, habe ich zum Thema meines Vor-
trags Ausführungen genommen, welche im Juni die-
ses Jahres auf der Tagung des Deutschen Werk-
bundes von Professor Dr. J. Frank in Wien gehalten
wurden.
Viele Dinge in diesem Vortrag waren richtig und
trafen gewisse Strömungen der Architektur und des
Kunstgewerbes, welche sich in Mitteleuropa für mo-
dern ausgeben. Anderes aber scheint mir genau das
auszudrücken, was man uns zu Unrecht vorwirft
und was mir. der ich diese Dinge allerdings nur nach
Artikeln aus Zeitschriften beurteilen kann, wie der
Ausdruck einer Reaktion erscheint, die man in Wien
und Berlin und vielleicht auch hier den neuen Ideen
entgegenstellt.
Das Wort, das Professor Frank mehrmals verwen-
det und das wohl am bezeichnendsten ist für diese
Reaktion, ist das Wort ..niedrig-praktisch".
Man kann eigentlich gegen dies Wort gar nicht
viel sagen, denn es ist der Ausdruck einer ganzen
Weltanschauung, die man kaum jemandem mit an-
deren Worten nehmen kann, wenn er nicht selber
schon auf dem Wege ist. sie zu überwinden. Es ist
die Weltanschauung, für die es zwei Arten von Din-
gen gibt: die körperlichen und die geistigen, die
sinnlichen und die seelischen, das Niedrig-Prakti-
sche und das Hohe-Zwecklose.--—
Nun frage ich Sie. meine Damen und Herren,
haben Sie sich schon einmal eine große Tuchschere
angesehen? Haben Sie empfunden, wie aus solch
einem Werkzeug die Vernunft von Generationen von
Handwerkern herausspricht, welche aus einer gro-
ben Urform, vielleicht zwei Stielen, die man mit der
Hand zusammendrückte, sich diese verfeinerte Form
herausgebildet hat, in der jede Kurve, jede Kante,
jede Materialstärke einen Sinn hat.
Ich frage Sie, wirkt nicht der Anblick dieses Werk-
zeugs auf Ihre Psyche? Gibt Ihnen dieser niedrig-
praktische Gegenstand nicht einen Eindruck, den
wir mit Gefühl der Schönheit bezeichnen?' Ich frage
Sie weiter, ist eine Brücke, die ohne jede künst-
lerische Absicht, aber mit einer vollkommenen Be-
herrschung der statischen Gesetze gebaut ist, nicht
schön? Fühlen Sie nicht die Spannungen, die in ihr
vorgehen und die nichts anderes sind als der Kampf
zwischen der brutalen Kraft der Erdanziehung und
der siegreichen Vernunft des Menschen. Ist diese
Vernunft, die doch nur im Dienste eines praktischen
Zieles steht, nur niedrig-praktisch?
Doch hier antwortet mir derjenige, welcher an die
Dualität der Dinge glaubt, daß eben die zweckhaften
Dinge, welche in uns einen Eindruck, einen seeli-
schen Eindruck, sagt er, auslösen, von Menschen
geschaffen seien, welche den ..nötigen Funken"
haben, das notwendige Gottesgnadentum, oder
wenn er trotz seiner dualistischen Weltanschauung
weniger religiös veranlagt ist, die Schöpfer dieser
Dinge hätten eben das ,,Gefühl für Form".
Doch versuchen wir zu erkennen, wo gewisse
dualistische Vorurteile ihren Ursprung haben. Da
ist z. B. das „Schöpferisch-Künstlerische", welches
man in Gegensatz stellt zu dem „Vernünftig-Rech-
nerischen".
Die Ingenieure selber werden uns nichts darüber
sagen können, wenn sie nicht zufällig ihre eigene
Arbeitsweise und ihren Entwicklungsgang zu analy-
sieren verstehen.
Wie geht der Ingenieur vor, der eine Brücke baut?
Bevor er zu zeichnen und zu rechnen anfängt, nach-
dem er aber schon genau über die Bodengestaltung
und Beschaffenheit des künftigen Bauplatzes Be-
scheid weiß, sieht er zuerst die ungefähre Brücken-
form, von der er ausgehen wird und die er nachher
durch Berechnungen in den Details wenig oder stark
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