fruchtbar zu machen. Nun halte ich es aber für durchaus
möglich, daß damit in Wirklichkeit noch gar nichts ge-
wonnen ist: es ist nicht nur denkbar, sondern läßt sich
als eine drohende Gefahr heute schon da und dort vor-
hersehen, daß das Endergebnis dieses „Fortschritts"
schließlich nichts anderes wie eine gigantische Langeweile
sein wird, die, wo immer sie auftritt, Symptom der
seelischen Verödung ist. Wenn die These von dem
materialistisch-biologischen Endzweck des Menschen-
lebens nicht nur doktrinär gelehrt und naiv geglaubt,
sondern auch durch die Lebensführung bekräftigt wird,
dann fürchte ich, daß in der Tat von der Menschheit
nichts übrig bleibt wie ein technisch begabtes Tier, das
sich vor dem drohenden Tod durch Langeweile mit
allen möglichen Mitteln zu schützen sucht — deren aller-
dings das Tier nicht bedarf. Das würde aber beweisen,
daß dem Fortschritt auf der einen ein sehr verhängnis-
voller „Rückschritt" auf der anderen Seite gegenüber-
stünde.
Seit einer Reise nach Rußland bin ich fest davon über-
zeugt, daß die Russen auf dem richtigen — so allerdings
nur für sie gangbaren — Wege sind, obwohl dort das
materialistische Dogma scheinbar unbeschränkt herrscht.
Aber es ist eben nicht zu verkennen, daß dieses Volk
ganz ungeheure seelische Reserven besitzt — und es hat
den Anschein, als ob diese Reserven durch die sozia-
listische Aufbauarbeit, die sehr viel echten „Idealismus"
erfordert, nicht etwa aufgebraucht, sondern geschont,
wahrscheinlich sogar noch vermehrt würden. Diesen
seelischen Kräften gegenüber hat die Macht des Dogmas
wenig zu bedeuten — die übrigens auch durch die Form,
in der die materialistische Philosophie heute in Rußland
gelehrt wird, bereits stark erschüttert ist. Die Grundthese
des staatlich zugelassenen sogenannten „dialektischen
Materialismus" ist ja die, daß zwar an der mechanisch-
materialistischen Erklärung aller Weltvorgänge unbedingt
festzuhalten sei, daß aber damit über die Natur dieser
Materie an sich noch nichts ausgesagt sei. Es steht also
nichts im Wege, diese „Materie" ais etwas Seelisch-
Geistiges zu erklären — womit der Anschluß an die
europäische Lehre von der „Leib-Seele-Einheit" ge-
wonnen wäre!
Das sind nun freilich doch wieder nur kurze Andeutun-
gen geworden, und ich kann nicht hoffen, daß ich Sie
auch nur in einem Punkte überzeugt habe. Aber viel-
leicht regt Sie das Gesagte zu neuen Argumenten an, und
wir gelangen auf diese Weise allmählich nicht nur zu
größerer Klarheit, sondern auch zu derjenigen Vertiefung
des Problems, die dessen zentraler Bedeutung an-
gemessen ist. Mit den besten Grüßen
stets Ihr
V/. R i e z I e r
Die Bewohner des Hauses Tugendhat äußern sich:
Die Bewohner des Hauses Tugendhat in Brünn haben sich zu unserer Freude zu der Frage der Bewohnbarkeit
des Hauses geäußert. Herr und Frau Tugendhat haben getrennt voneinander uns Schreiben geschickt, die wir
beide veröffentlichen. Wir beschließen die Auseinandersetzung, indem wir unserem Mitarbeiter, dem Architekten
Ludwig Hilberseimer, das Wort zu einer kurzen Stellungnahme geben. Diese Stellungnahme ist deshalb besonders
wichtig, weil Hilberseimer das Haus selbst gesehen hat.
Geehrte Redaktion,
Herr Riezler sagt in seiner Antwort auf die Frage:
„Kann man im Haus Tugendhat wohnen?", daß eigent-
lich die Bewohner dazu Stellung nehmen müßten. Es ist
mir wirklich ein Bedürfnis, dies zu tun. — Ich will voraus-
schicken, daß auch ich der Ansicht bin, daß ein Privat-
haus nicht der beste und richtigste Ort zur Gestaltung
der Miesschen Raumideen ist, und zwar schon deshalb
nicht, weil echte Kunst — und die ist im Miesschen
Bauen intendiert — im Gegensatz zum Kunstgewerbe
— nie für den einzelnen geschaffen worden ist
oder werden kann. Das hat aber mit der Frage, ob
man in unserem Haus wohnen kann, nicht viel zu
tun. Denn wenn Herr Bier meint, man sollte Mies
Aufgaben stellen, die seine „für die höchsten Auf-
gaben der Baukunst gerüstete Kraft an der richtigen
Stelle einsetzen, dort, wo dem Geist ein Haus zu bauen
ist, nicht, wo die Notdurft des Wohnens, Schlafens,
Essens eine stillere, gedämpftere Sprache verlangt", so
ist gerade dies der Sinn der Miesschen Arbeit, gegen-
über der Notdurft den primär geistigen Sinn des Lebens
jedes einzelnen von uns wieder in sein Recht einzusetzen
— wieweit das für alle in ihrem Heim und nicht „dort,
wo dem Geist ein Haus zu bauen ist", richtig und möglich
ist, ist eine soziale Frage, die Herr Mies nicht lösen
kann. — Der Kernpunkt der Kritik des Herrn Bier scheint
mir die Behauptung, daß die Pathetik dieser Räume
zu einem Ausstellungswohnen zwingt und persönliches
Leben erdrückt. Ob es an der „Abstumpfung" liegt
— wie Herr Riezler meint — oder nicht — jedenfalls habe
ich die Räume nie als pathetisch empfunden, wohl aber
als streng und groß — jedoch in einem Sinn, der nicht
erdrückt, sondern befreit.
Diese Strenge verbietet ein nur auf „Ausruhen" und
Sich-Gehen-Lassen gerichtetes Die-Zeit-Verbringen — und
gerade dieses Zwingen zu etwas anderem hat der vom
Beruf ermüdete und dabei leergelassene Mensch heute
nötig und empfindet es als Befreiung. Denn wie man in
diesem Raum jede Blume ganz anders sieht als sonst und
auch jedes Kunstwerk stärker spricht — (z. B. eine vor
der Onyxwand stehende Plastik) —, so heben sich auch
der Mensch für sich und die anderen klarer aus seiner Um-
welt heraus. Es ist auch absolut nicht so, wie Herr Bier
meint — daß die Räume ganz fertig sind und man sich
ängstlich hüten müßte, irgend etwas zu verändern —, so-
lange man nicht die Gliederung des Ganzen stört, sind
Änderungen, wie es sich gezeigt hat, wohl möglich. Der
Rhythmus des Raumes ist so stark, daß kleine Verände-
rungen unwesentlich bleiben. Was nun diesen Rhythmus
anbelangt, so kann ich Herrn Riezler nicht zustimmen, daß
er „seine Lösung erst im Einswerden mit dem Allraum
der Natur findet" — so wichtig auch die Verbundenheit
von drinnen und draußen ist, so ist der Raum doch ganz
geschlossen und ruht in sich —, die Glaswand wirkt in
diesem Sinn vollkommen als Begrenzung. Wenn es
anders wäre, glaube ich selbst, daß man ein Gefühl der
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möglich, daß damit in Wirklichkeit noch gar nichts ge-
wonnen ist: es ist nicht nur denkbar, sondern läßt sich
als eine drohende Gefahr heute schon da und dort vor-
hersehen, daß das Endergebnis dieses „Fortschritts"
schließlich nichts anderes wie eine gigantische Langeweile
sein wird, die, wo immer sie auftritt, Symptom der
seelischen Verödung ist. Wenn die These von dem
materialistisch-biologischen Endzweck des Menschen-
lebens nicht nur doktrinär gelehrt und naiv geglaubt,
sondern auch durch die Lebensführung bekräftigt wird,
dann fürchte ich, daß in der Tat von der Menschheit
nichts übrig bleibt wie ein technisch begabtes Tier, das
sich vor dem drohenden Tod durch Langeweile mit
allen möglichen Mitteln zu schützen sucht — deren aller-
dings das Tier nicht bedarf. Das würde aber beweisen,
daß dem Fortschritt auf der einen ein sehr verhängnis-
voller „Rückschritt" auf der anderen Seite gegenüber-
stünde.
Seit einer Reise nach Rußland bin ich fest davon über-
zeugt, daß die Russen auf dem richtigen — so allerdings
nur für sie gangbaren — Wege sind, obwohl dort das
materialistische Dogma scheinbar unbeschränkt herrscht.
Aber es ist eben nicht zu verkennen, daß dieses Volk
ganz ungeheure seelische Reserven besitzt — und es hat
den Anschein, als ob diese Reserven durch die sozia-
listische Aufbauarbeit, die sehr viel echten „Idealismus"
erfordert, nicht etwa aufgebraucht, sondern geschont,
wahrscheinlich sogar noch vermehrt würden. Diesen
seelischen Kräften gegenüber hat die Macht des Dogmas
wenig zu bedeuten — die übrigens auch durch die Form,
in der die materialistische Philosophie heute in Rußland
gelehrt wird, bereits stark erschüttert ist. Die Grundthese
des staatlich zugelassenen sogenannten „dialektischen
Materialismus" ist ja die, daß zwar an der mechanisch-
materialistischen Erklärung aller Weltvorgänge unbedingt
festzuhalten sei, daß aber damit über die Natur dieser
Materie an sich noch nichts ausgesagt sei. Es steht also
nichts im Wege, diese „Materie" ais etwas Seelisch-
Geistiges zu erklären — womit der Anschluß an die
europäische Lehre von der „Leib-Seele-Einheit" ge-
wonnen wäre!
Das sind nun freilich doch wieder nur kurze Andeutun-
gen geworden, und ich kann nicht hoffen, daß ich Sie
auch nur in einem Punkte überzeugt habe. Aber viel-
leicht regt Sie das Gesagte zu neuen Argumenten an, und
wir gelangen auf diese Weise allmählich nicht nur zu
größerer Klarheit, sondern auch zu derjenigen Vertiefung
des Problems, die dessen zentraler Bedeutung an-
gemessen ist. Mit den besten Grüßen
stets Ihr
V/. R i e z I e r
Die Bewohner des Hauses Tugendhat äußern sich:
Die Bewohner des Hauses Tugendhat in Brünn haben sich zu unserer Freude zu der Frage der Bewohnbarkeit
des Hauses geäußert. Herr und Frau Tugendhat haben getrennt voneinander uns Schreiben geschickt, die wir
beide veröffentlichen. Wir beschließen die Auseinandersetzung, indem wir unserem Mitarbeiter, dem Architekten
Ludwig Hilberseimer, das Wort zu einer kurzen Stellungnahme geben. Diese Stellungnahme ist deshalb besonders
wichtig, weil Hilberseimer das Haus selbst gesehen hat.
Geehrte Redaktion,
Herr Riezler sagt in seiner Antwort auf die Frage:
„Kann man im Haus Tugendhat wohnen?", daß eigent-
lich die Bewohner dazu Stellung nehmen müßten. Es ist
mir wirklich ein Bedürfnis, dies zu tun. — Ich will voraus-
schicken, daß auch ich der Ansicht bin, daß ein Privat-
haus nicht der beste und richtigste Ort zur Gestaltung
der Miesschen Raumideen ist, und zwar schon deshalb
nicht, weil echte Kunst — und die ist im Miesschen
Bauen intendiert — im Gegensatz zum Kunstgewerbe
— nie für den einzelnen geschaffen worden ist
oder werden kann. Das hat aber mit der Frage, ob
man in unserem Haus wohnen kann, nicht viel zu
tun. Denn wenn Herr Bier meint, man sollte Mies
Aufgaben stellen, die seine „für die höchsten Auf-
gaben der Baukunst gerüstete Kraft an der richtigen
Stelle einsetzen, dort, wo dem Geist ein Haus zu bauen
ist, nicht, wo die Notdurft des Wohnens, Schlafens,
Essens eine stillere, gedämpftere Sprache verlangt", so
ist gerade dies der Sinn der Miesschen Arbeit, gegen-
über der Notdurft den primär geistigen Sinn des Lebens
jedes einzelnen von uns wieder in sein Recht einzusetzen
— wieweit das für alle in ihrem Heim und nicht „dort,
wo dem Geist ein Haus zu bauen ist", richtig und möglich
ist, ist eine soziale Frage, die Herr Mies nicht lösen
kann. — Der Kernpunkt der Kritik des Herrn Bier scheint
mir die Behauptung, daß die Pathetik dieser Räume
zu einem Ausstellungswohnen zwingt und persönliches
Leben erdrückt. Ob es an der „Abstumpfung" liegt
— wie Herr Riezler meint — oder nicht — jedenfalls habe
ich die Räume nie als pathetisch empfunden, wohl aber
als streng und groß — jedoch in einem Sinn, der nicht
erdrückt, sondern befreit.
Diese Strenge verbietet ein nur auf „Ausruhen" und
Sich-Gehen-Lassen gerichtetes Die-Zeit-Verbringen — und
gerade dieses Zwingen zu etwas anderem hat der vom
Beruf ermüdete und dabei leergelassene Mensch heute
nötig und empfindet es als Befreiung. Denn wie man in
diesem Raum jede Blume ganz anders sieht als sonst und
auch jedes Kunstwerk stärker spricht — (z. B. eine vor
der Onyxwand stehende Plastik) —, so heben sich auch
der Mensch für sich und die anderen klarer aus seiner Um-
welt heraus. Es ist auch absolut nicht so, wie Herr Bier
meint — daß die Räume ganz fertig sind und man sich
ängstlich hüten müßte, irgend etwas zu verändern —, so-
lange man nicht die Gliederung des Ganzen stört, sind
Änderungen, wie es sich gezeigt hat, wohl möglich. Der
Rhythmus des Raumes ist so stark, daß kleine Verände-
rungen unwesentlich bleiben. Was nun diesen Rhythmus
anbelangt, so kann ich Herrn Riezler nicht zustimmen, daß
er „seine Lösung erst im Einswerden mit dem Allraum
der Natur findet" — so wichtig auch die Verbundenheit
von drinnen und draußen ist, so ist der Raum doch ganz
geschlossen und ruht in sich —, die Glaswand wirkt in
diesem Sinn vollkommen als Begrenzung. Wenn es
anders wäre, glaube ich selbst, daß man ein Gefühl der
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