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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 6.1931

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Ginsburger, Roger; Riezler, Walter: Zweckhaftigkeit und geistige Haltung
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https://doi.org/10.11588/diglit.13708#0448

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thustra recht haben sollte, daß „Gott tot ist", so gibt er
damit zu, daß Gott einmal gelebt hat, d. h. wirksam ge-
wesen ist. Und selbst mit dem „Tode Gottes" wäre noch
lange nicht das „Ende der Illusion", die man Religion
nennt, im Sinne Freuds erreicht: es kommt nur darauf an,
was jetzt an Stelle Gottes „vergottet", d. h. in die Würde
eines höchsten, absoluten Wertes, an den man „glaubt",
erhoben wird.

Dies alles mußte ich — leider etwas umständlich und
doch nur in für das Verständnis gefährlicher Kürze —
vorausschicken, um auf Ihre „Erklärung" der gotischen
Kathedralarchitektur etwas tiefer eingehen zu können.
Nun will ich Ihnen gleich sagen, daß ich Ihre Analyse
fast in allen Punkten für durchaus plausibel halte. (Nur
hinter die Erklärung des Gefühls für Raum und Rhythmus
mit Hilfe der erotischen Sphäre setze ich ein großes
Fragezeichen, — ohne deshalb die Möglichkeit von Zu-
sammenhängen leugnen zu wollen!) Aber ich bestreite
auf das entschiedenste, daß diese Analyse ausreicht, um
die Tatsache des gotischen Domes zu erklären, — auch
wenn man noch die angeblich „marxistische" These von
der Bedingtheit aller Architektur durch die Ansprüche der
herrschenden Klassen zu Hilfe nimmt. Alle diese physio-
logisch bedingten Empfindungen mögen bei den Erbauern
der Dome — bewußt oder unbewußt — wirksam gewesen
sein — niemals hätten sie ausgereicht, um die mensch-
liche Schöpferkraft zu Leistungen von so übermenschlicher
Größe emporzutreiben, wenn nicht die ganze Zeit von
der Gottesidee beherrscht gewesen wäre. Aus dem Ge-
fühl für das Statische, Optische, Räumliche, Rhythmische
und Farbliche entsteht kein gotischer Dom, — wohl aber
benutzt der von einer gewaltigen Zeitidee besessene
Baumeister alle diese Elemente zu Gestaltungen, in denen
diese Idee ihren Ausdruck findet (wobei die Idee dem
Baumeister keineswegs bewußt gewesen zu sein
braucht). Wenn dem nicht so wäre — warum sind dann
gotische Dome nur in einer ganz bestimmten Epoche
gebaut worden, deren allgemeine Geisteshaltung zu der
Idee des Domes paßt? Jene von Ihnen festgestellten
Elemente sind doch nicht zeitgebunden, sondern „ewige"
Bestandteile der Menschennatur.

Und um nun von hier aus gleich den großen Schritt
zum eigentlichen Ausgangspunkte unserer Unterhaltung
zu tun: Sie werden jetzt verstehen, daß ich nicht ohne
weiteres bereit bin, anzuerkennen, das dem „Haus
Tugendhat" keine spezifische „geistig-seelische Haltung"
zugrunde liege. Sie sprechen zwar in diesem Falle selbst
von „psychologischen Bedürfnissen", — aber damit meinen
Sie offenbar nicht das, was ich mit „seelischer Haltung"
bezeichne; denn an einer früheren Stelle erklären Sie
ausdrücklich das „hypothetische Element Seele" für über-
flüssig. Das, was Sie meinen, ist richtiger als „physio-
logisches Bedürfnis" zu bezeichnen. — Nun folge ich
Ihrer Methode und exemplifiziere vom gotischen Dome
auf das „Haus Tugendhat": auch hier geben Sie eine
ausgezeichnete Analyse der physiologischen Elemente,
die der Wirkung dieses Baus zugrunde liegen, — auch
hier behaupte ich, daß diese Analyse nicht ausreicht, um
die Tatsache dieses Hauses zu erklären. Nur aus einer
ganz bestimmten geistig-seelischen Haltung heraus
konnte überhaupt der Wunsch, ein solches Haus zu be-
sitzen, die Kraft, ein solches Haus zu bauen, entstehen,
dessen Wesensart sich von allem, was früher gebaut
wurde, aufs schärfste unterscheidet. Der von Ihnen aus-
gezeichnet geschilderte Eindruck, den der große Wohn-
raum macht, wäre als Ziel der Baukunst noch vor wenigen
Jahrzehnten undenkbar gewesen, und noch heute wirkt

dieser Raum und der ganze Bau nur auf diejenigen
Menschen, die — bewußt oder unbewußt — an dem
Geiste der Gegenwart Anteil haben, — an einem Geiste,
der sich allerdings meiner festen Überzeugung nach mit
jedem Jahre deutlicher und unwiderstehlicher auf den ver-
schiedensten kulturellen Gebieten äußert, und der so
mächtig ist, daß ihm auch diejenigen unterliegen, die im
Banne des materialistischen Dogmas die Existenz jedes
Geistes leugnen, daher auch nicht zugeben dürfen, daß,
wie zu jeder menschlichen Leistung auch zum Bauen,
wenn es wirklich lebendig sein will, eine „geistig-seelische
Haltung" gehört. Unempfindlich für die Wirkung dieses
Geistes sind nur entweder diejenigen, die noch in den
Formen früherer Zeiten befangen sind — hierunter sind
viele höchst wertvolle Persönlichkeiten — oder die an-
deren, die nicht theoretische, sondern „faktische" Mate-
rialisten sind, d. h. deren seelisches Leben bereits ver-
kümmert ist. Deren gibt es heute leider schon mehr als
genug; aber daß es daneben auch noch Menschen gibt,
deren Empfänglichkeit für die lebendige künstlerische
Form unversehrt erhalten blieb, scheint mir zu beweisen,
daß es noch so etwas wie „Seele" gibt.

Und nun noch ein Wort zum Problem des „Fort-
schritts". Auch hier ist die Entscheidung für oder
wider gar nicht so einfach. Wenn man den Gedanken
tief genug faßt, ist der Glaube an das „Fortschreiten"
der Menschheit zu immer höheren Zielen etwas Erhabenes
und Gesundes. Er liegt schließlich auch der Hegeischen
Geschichtsphilosophie, also einer der großartigsten Kon-
struktionen des menschlichen Geistes, zugrunde und war
in allen Epochen von ursprünglicher Vitalität lebendig:
war es doch nichts anderes, was die alten Athener nach
dem Abzug der Perser bewog, die halbzerstörten herr-
lichen Statuen auf der Akropolis in die Fundamente der
Neubauten einzubauen, weil sie sich zutrauten, etwas
viel Schöneres neu zu schaffen. Wenn man aber heute
von „Fortschritt" spricht, und wenn viele, wie W. Schmidt,
diese Rede belächeln oder dagegen protestieren, so ist
meistens etwas anderes, wesentlich flacheres gemeint,
nämlich jene einseitige Betonung der neuen „Errungen-
schaften" des „technischen Zeitalters", die ohne jeden
Zweifel auf einem bestimmten Gebiete einen echten
„Fortschritt" bedeuten, — der aber nach Ansicht jener
Kritiker erkauft ist mit sehr wesentlichen Verlusten auf
anderen Gebieten der menschlichen Kultur. Dieser Be-
griff des „Fortschritts", ein echtes Kind des neunzehnten
Jahrhunderts, ist wahrscheinlich nicht als ein Zeichen be-
sonderer kultureller Kraft zu werten, sondern eher
Symptom einer gewissen Schwäche des kulturellen Selbst-
bewußtseins, die „überkompensiert" wird, oder doch
einer keineswegs ungefährlichen Einengung des kulturellen
Horizontes.

Ich weiß wohl — Sie haben einen etwas anderen
Begriff des „Fortschritts", der mit dem oben gemeinten
des neunzehnten Jahrhunderts wohl ursächlich zusammen-
hängt, aber doch etwas tiefer fundiert ist. Sie meinen
die Ausnutzung der technischen Errungenschaften für die
soziale Idee, d. h. für die Schaffung menschenwürdiger
Lebensbedingungen für alle Menschen. Und dies ist
allerdings ein höchst erstrebenswertes Ziel, dessen Er-
reichung man in der Tat als Beweis für die Höherentwick-
lung der Menschheit werten dürfte. Freilich fürchte ich,
auch in diesem Punkte mit Ihnen nicht ganz einig zu sein:
was Sie über den sozialen Fortschritt schreiben, das
läßt sich leicht so verstehen, also ob das Ziel schon da-
mit erreicht sei, wenn es einmal gelungen sein wird, die
technischen Errungenschaften für „alle Volksgenossen"

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