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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 6.1931

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Die Bewohner des Hauses Tugendhat äußern sich
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https://doi.org/10.11588/diglit.13708#0450

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Unruhe und Ungeborgenheit hätte. So aber hat der
Raum — gerade durch seinen Rhythmus — eine ganz be-
sondere Ruhe, wie sie ein geschlossenes Zimmer gar nicht
haben kann.

Was das Praktische anbelangt, so haben wir uns auch
während der Planung Sorgen gemacht, ob die Ab-
trennung des Eßzimmers genügen wird. Tatsächlich war
vom Speisendunst noch nie etwas zu bemerken. Der
Samtvorhang schließt den Eßraum genügend ab, so daß
auch die Geräusche des Auf- und Abdeckens nicht
störend sind.

Was nun die Isolierungsmöglichkeit betrifft, so muß
ich zugeben, daß diese Frage definitiv erst später be-
antwortet werden kann, wenn die Kinder erwachsen sein
werden — vorläufig konnten wir bei Besuchen und auch
größeren Gesellschaften feststellen, daß es sehr gut mög-
lich ist, die einzelnen Gruppen in ausreichender Weise
trennen zu können, so daß eine gegenseitige Störung
das gewohnte Maß nicht überschreitet.

Wir rechnen allerdings für später damit, daß die
oberen Zimmer — die schon von vornherein nicht als aus-
gesprochene Schlafräume eingerichtet sind — teilweise
auch als Wohnzimmer dienen werden.

Wir wohnen sehr gern in diesem Haus, so gern, daß
wir uns nur schwer zu einer Reise entschließen können
und uns befreit fühlen, wenn wir aus engen Zimmern
wieder in unsere weiten, beruhigenden Räume kommen.

Grete Tugendhat

Geehrte Redaktion,

„Kann man im Hause Tugendhat wohnen?"

Diese Frage, ob überhaupt berechtigt oder nicht, kann
wirklich nur von den Bewohnern beantwortet werden.

Herr B. geht von der falschen Voraussetzung aus,
daß wir „einem" Architekten einfach „einen" Bauauftrag
gegeben haben, und da konnte Herr Mies van der Rohe
dann „das Prototyp eines Wohnhauses" in vollster Frei-
heit schaffen.

Es war aber so: Wir sahen unter vielen anderen Ab-
bildungen auch solche von Bauprojekten des Architekten
Mies van der Rohe — und da wir eine unbestimmte Vor-
stellung von Licht, Luft, Klarheit und Wahrheit hatten —
gingen wir zu Herrn Mies — und übergaben ihm nach
kurzer Bekanntschaft die Aufgabe. Eine Aufgabe, die
hinsichtlich der Wohntechnik genau umrissen war.

Nun sind unsere Wünsche in einem solchen Maße er-
füllt worden, daß ich oft glaube, dieses Haus schon vor
der Erschaffung durch den Baumeister gesehen zu haben
— und doch ist dieses Haus eine „reine Lösung". — Darin
sehe ich die größte Kunst des Architekten.

Herr Bier, der vermutlich das Haus nur von einigen
flachen Fotografien kennt — die nur einen ganz un-
zulänglichen Begriff des Werkes geben können, Herr B.
spricht nur von dem großen Hauptraum — ohne zu be-
denken, daß dieser doch ein Teil des Hausorganismus
ist. Es wird die mangelhafte Differenzierung dieses
Hauptraumes kritisiert, das „Nur-Offensein" gegen den
Freiraum, das Fehlen eines abgeschlossenen Arbeits-
raumes, und es wird von „Paradewohnen und Aus-
stellungswohnen" gesprochen.

Besonders die letztgenannte Behauptung ist erstaun-
lich und von Grund aus neu für die Bewohner.

Die einzelnen „Plätze" des Hauptraumes sind durch
schwere Vorhänge hinreichend in „geschlossene Räume"
zu verwandeln — ebenso gelingt es — zumindest in der
Bibliothek, sich gegen den Freiraum Natur vollkommen
abzuschließen, wenn das Bedürfnis hierzu bestehen

sollte — allerdings ziehe ich den weiten Horizont bei
geistiger Konzentration dem einengenden Druck naher
Wände vor. Einzelne Gesellschaftsgruppen stören sich
nicht mehr als in den zimmergeteilten alten Häusern.
Sollte ein geschlossenes Arbeitszimmer für den „Herrn des
Hauses" wirklich ein Bedürfnis sein? Ich wenigstens legte
großen Wert darauf, kein Arbeitszimmer in diesem „Zu-
hause" zu haben — meine Arbeitsstätte lasse ich, ebenso
wie den Berufsmenschen, draußen —, gewiß ein Luxus.
Im übrigen kann das „Schlafzimmer des Herrn" ebenso-
gut als Arbeitszimmer benutzt werden, ohne daß man
in den Verdacht „eingeschränkter Lebensführung" kommen
müßte.

Daß das Haus in technischer Hinsicht alles besitzt, was
der moderne Mensch nur wünschen kann, das darf ich
nach fast einjährigem Wohnen hier mit voller Gewißheit
bejahen. Im Winter ist das Haus leichter zu heizen als
ein Haus mit dicken Mauern und doppelten Kleinfenstern.
— Die Sonne scheint infolge der vom Fußboden bis zur
Decke reichenden Glaswand und wegen der hohen Lage
des Hauses tief in den Raum hinein. Bei klarem Frost-
wetter kann man bei herabgelassenen Scheiben in der
warmen Sonne sitzen und auf schneebedeckte Landschaft
schauen, wie in Davos. Im Sommer sorgen Sonnen-
piachen und elektrische Luftkühlung für angenehme
Temperatur.

Speisegerüche aus der halbrunden Speisenische sind
nie aufgetreten — wenn gelüftet werden soll, dann ge-
schieht dies in wenigen Sekunden durch Verschwinden-
lassen der Glaswand. Abends werden die Glaswände
durch leichte Seidenvorhänge verdeckt, welche das
Spiegeln verhindern.

Es ist richtig, man kann in dem Hauptraum keine Bilder
aufhängen, ebensowenig kann man wagen, irgendein
die stilvolle Einheitlichkeit des Mobilars störendes Stück
hineinzutragen — wird aber deswegen „das persönliche
Leben erdrückt"? Die unvergleichliche Zeichnung des
Marmors, die natürliche Maserung des Holzes sind nicht
an die Stelle der Kunst getreten, sie treten in der Kunst
auf, im Raum, der hier Kunst ist. übrigens darf die
„Kunst" durch eine edle Lehmbruck-Plastik in ungewohnter
Weise zur Geltung kommen — und auch das persönliche
Leben — in freierer Weise als je. Und wenn ich die
Blätter und Blüten betrachte, die wie Solitäre von ge-
mäßen Hintergründen sich leuchtend abheben, wenn ich
diese Räume und alles, was darin ist, auf mich als Ganzes
einwirken lasse, dann empfinde ich deutlich: Das ist
Schönheit — das ist Wahrheit. Wahrheit — man kann
verschiedene Anschauungen haben, aber jeder, der diese
Räume sieht, wird früher oder später zu der Erkenntnis
kommen, daß hier wahre Kunst ist.

Dies danken wir Herrn Mies van der Rohe.

Fritz Tugendhat

Ludwig Hilberseimer urteilt:

Ein wirkliches Urteil über die Bewohnbarkeit eines
Hauses haben letzthin nur die Bewohner selbst. Aber
darüber hinaus kann ein Haus durch die besondere Art
der Lösung der Wohnbedürfnisse oder durch die beson-
dere Art seiner Gestaltung von allgemeinem Interesse
sein. Beides trifft für das Haus, das Mies van der Rohe
in Brünn erbaut hat, in hohem Maße zu.

Die Räume dieses Hauses sind nicht nur in persönliche
und allgemeine getrennt, sondern auch entsprechend
ihrer jeweiligen Aufgabe durchgebildet. Die persönlichen
Räume sind abgeschlossen, gegenseitig isoliert, so daß
sich die Bewohner unabhängig voneinander zurückziehen

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