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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 6.1931

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Villon, Pierre: "Was ist modern?"
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https://doi.org/10.11588/diglit.13708#0019

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verändert und festlegt. In diesen Augenblick, in dem
ihm die allgemeine Form bewußt geworden ist, ver-
legt man den Geistesblitz des ..Schöpferisch-Künst-
lerischen".

Auf die Analyse dieses Momentes des Bewußt-
werdens der Form kommt es also an, wenn man wis-
sen will, ob es sich wirklich um einen überrationa-
len Vorgang handelt. Ich bin überzeugt davon, daß
wir hier nichts Übernatürlicheres vor uns sehen als
bei dem Vorgang, der sich in jedem von uns hier und
da abspielt, wenn er sich auf einen Namen besinnt
und ihn nicht finden kann und eine halbe Stunde
später, wenn er gar nicht mehr daran denkt, das
heißt, gar nicht mehr bewußt daran denkt, ihm der
Name plötzlich einfällt. —--

Wir können heute diese Vorgänge in ihrem ge-
nauen Mechanismus noch nicht beschreiben, wir wis-
sen aber doch, daß es sich um nichts Überirdisches
handelt, es sei denn, daß man den Menschen und
seine Vernunft schon als etwas Überirdisches an-
sieht.

Wenn der Ingenieur seine Terrainpläne und
Schnitte durchgesehen hat, wenn er weiß, mit was
für einem Material er in dem bestimmten Falle ar-
beiten muß, dann denkt er eben halbbewußt oder
unterbewußt weiter an das Problem, und im Augen-
blick, in dem er eine Lösung gefunden hat, wird sie
ihm bewußt. Der Unterschied zwischen demjenigen,
welcher eine gangbare, aber nicht neue Lösung fin-
det und demjenigen, der die sogenannte geniale
entdeckt, ist nicht weniger aus den Gesetzen des
Verstandes heraus erklärbar. Es gibt eben Inge-
nieure, in denen sich die Kette der Ideenassozia-
tionen zwischen Problemstellung und Problemlösung
leichter und reibungsloser vollzieht als bei anderen.
Oder sagen wir mit einfacheren Worten, die klüger
oder hemmungsloser sind als andere.

Beim Statiker gibt es noch eine Frage der mehr
oder weniger großen Verfeinerung seines Gefühles
für Kräftespannungen. Und wenn ich Gefühl sage,
dann meine ich wieder nicht etwas, was außerhalb
des Rationalen steht, sondern ich meine damit eine
so große Vertrautheit mit dem Zug und dem Druck,
dem Schub und der Elastizität, die in einem Material
vorkommen, daß er fast ohne Überlegung einem be-
anspruchten Teil, die statisch richtige Form geben
kann. Derjenige, der sich von jung an dafür inter-
essiert, der sich in jeden Stock, den er bog. hinein-
dachte, der den Zug auf die Faser des Holzes so-
zusagen miterlebte, der sich auch nicht aus Hoch-
achtung vor den Formeln davon abhalten ließ, wei-
terhin anschaulich zu denken, der besitzt diese
Instinkt gewordene Erfahrung. Dieser ist es auch,
der in jeder Zeit die kleinen Verbesserungen erfin-
det, welche den Fortschritt ausmachen. Und mit
demselben, wenn auch nicht so verfeinerten, Ge-
fühl für das Kräftespiel in der Materie empfindet
der Laie nach, was in den Werken dieser Männer
vor sich geht, wenn er auch nichts von Statik ver-
steht.

Wenn ich mich soweit auslasse über das Wesen
des Ingenieurs und seiner Arbeit, so ist es, weil in
den letzten fünfzig Jahren der Ingenieur sowohl in
der Baukonstruktion als auch bei den Gebrauchs-
gegenständen die meisten neuen und wertvollen1
Dinge geschaffen hat, weil er eben keine ästheti-
schen Vorurteile hatte, weil er nicht mit unklaren,

künstlerischen Absichten seine Arbeit vollbrachte,
sondern immer zweckhafte Probleme zu lösen ver-
suchte. Wenn es nun in der journalistischen Litera-
tur über das neue Gestalten Leute gibt, die sagen,
„der Künstler müsse auch Ingenieur sein", so ist es
dennoch eine nichtssagende Phrase, denn ein Inge-
nieur hat seine Art Arbeit, ein Komponist, ein Maler
oder Dichter eine andere Art. und jede hat ihre be-
stimmten Ziele, welche man nicht gegeneinander
vertauschen kann.

Will man damit sagen, daß alle in gleicher Weise
zielbewußt arbeiten sollen, dann ist das zwar rich-
tig, aber es wird mit diesem Schlagwort nicht um-
schrieben. Wenn man jedoch den Architekten oder
denjenigen, der Möbel oder andere Gebrauchsgegen-
stände entwirft, mit dem Wort Künstler bezeichnen
will, dann ist diese Forderung nicht richtiger, schon
allein, weil es unsinnig ist. diese Berufe mit dem-
selben Gattungsnamen zu bezeichnen wie diejeni-
gen, welche psychische Narkotika oder Stimulan-
zen schaffen.

Es ist hier nicht der Ort. darüber zu diskutieren,
inwiefern diese Berufe heutzutage noch lebendig
oder lebensberechtigt sind. Jedenfalls kann man
nicht in einem Atem von ihnen und der Architektur
sprechen. Man könnte also höchstens sagen, daß
die Architekten und die Schöpfer von Gebrauchs-
gegenständen genau so rationell arbeiten sollen
auf ihrem Gebiet wie der Ingenieur auf dem seinigen.

Professor Frank greift ebenfalls diesen Satz an.
Er tut es aber von einem ganz anderen Standpunkt
aus. wenn er sagt:

..Der Künstler muß ein Ingenieur sein. Das wird
vielfach von Leuten betont, die von Ingenieurkunst
keine Ahnung haben. Ich muß aus eigener Erfah-
rung sagen, daß der Ingenieur zu den phantasielose-
sten Menschen unserer Zeit gehört. Ein formal den-
kender Mensch ist eben kein Ingenieur, ebenso wie
ein rechnender kein Architekt ist. Deshalb gelingen
auch der Industrie manches Mal sehr gute, sehr un-
persönliche Typen, mit denen sich unsere Kunst-
gewerbler vergeblich abmühen. Ein Zusammen-
arbeiten von Ingenieur und Architekt ist deshalb
auch aussichtslos, denn beide denken verschieden,
und der Architekt wird nie eine Form finden, die zur
Typisierung geeignet ist: es gehört zu seinem
Wesen, individuell zu denken. Das haben auch alle
bisherigen Resultate gezeigt."

Daß der Ingenieur keine Phantasie hat. das
braucht man nicht zu widerlegen, denn wenn
die Werke, die er schafft, sogar in der Form
viel neuartiger sind als alle diejenigen, welche die
Architekten vorbringen, dann beweist das entweder,
daß sie doch Phantasie haben und mehr als die Ar-
chitekten, oder daß die Disziplinierung. daß das
Arbeiten nach Gesetzen der Zweckmäßigkeit und
der Statik weiter führt als alle Phantasie.

Wenn ein formal denkender Mensch kein Ingenieur
ist, ein rechnender kein Architekt, dann ist es wohl
besser, wir Architekten bringen uns um und fangen
in einer anderen Welt an, als Ingenieure Wohnhäuser
zu bauen.

Sicher ist doch, daß ein Freyssinet auf seinem Ge-
biet, das heißt, dem Bau von Brücken. Fabrik- und
Flugzeughallen etwas geleistet hat, daß die neuen
Telefonapparate Dinge sind, die sowohl im Ge-
brauch als auch in der Form befriedigen. Sicher ist

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