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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 6.1931

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Villon, Pierre: "Was ist modern?"
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https://doi.org/10.11588/diglit.13708#0020

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auch, daß die Dinge, die von Architekten oder Kunst-
gewerblern in den letzten dreißig Jahren geschaffen
wurden, nur dann immer noch gut sind, wenn sie
praktisch und konstruktiv gelöst waren. Das will
aber gar nicht heißen, daß der Architekt durch den
Ingenieur ersetzt werden kann, sondern, daß er auf
seinem Gebiet, im Bau von Wohnungen, von Schu-
len. Versammlungssälen. Kinos. Hotels oder Kran-
kenhäusern genau so rationalistisch vorgehen soll
wie der Ingenieur, indem er versucht, in jedem Fall
das Problem der Zweckmäßigkeit im organisatori-
schen, hygienischen und psychologischen Sinne,
und das Problem der Haltbarkeit und wirtschaft-
lichen Herstellungsweise durchzudenken, festzu-
legen und zu lösen.

Was die Zusammenarbeit des Architekten mit dem
Bau-. Heizungs-. Elektro- und gegebenenfalls Ma-
schineningenieur betrifft, so ist sie nicht nur mög-
lich, sondern notwendig. Es gibt genug Fälle, in
denen der Architekt diese Ingenieure als Berater
braucht und ihnen gewisse Teile des Baues auszu-
arbeiten geben muß. wo er ihre Spezialitäten nicht
weit genug kennen kann, um sie zu ersetzen. Es
geht reibungslos, sobald alle klar denken und nicht
in ihrem Fach Vorurteile haben. Ingenieure sind Men-
schen wie andere auch, und man findet in diesem
Berufe wie in jedem anderen alle möglichen Ab-
stufungen der Intelligenz.

Ich habe vorhin von der Zweckmäßigkeit im psy-
chologischen Sinne gesprochen. Ich weiß im voraus,
daß, wenn ich das nicht erkläre, man mir vorwer-
fen würde, daß ich im Grunde schon gemerkt habe,
daß es noch etwas anderes. Höheres gäbe als die
Zweckmäßigkeit, daß ich es aber nur nicht zugeben
wolle, da es nicht in meine Theorie passe und daß
ich es deswegen hinter einem neuen Ausdruck
Zweckmäßigkeit in psychologischer Beziehung ver-
stecke.

Jede Arbeitsersparnis, die wir der Hausfrau in
der Küche machen, hat schon eine psychologische
Rückwirkung, denn jedes oft wiederholte Umdrehen
wirkt ermüdend und erweckt Unlustempfindungen.
Wenn ich aber von psychologischer Zweckmäßigkeit
spreche, dann denke ich an Vorgänge, die nichts mit
der praktischen Organisation eines Hauses zu tun
haben. Ein sehr bekanntes psychologisches Phä-
nomen ist das Bedürfnis nach Rückendeckung, wel-
ches wir bei fast allen Menschen finden.

Für das Vorhandensein dieses Bedürfnisses gibt
es zwei Erklärungsmöglichkeiten. Es kann als Ata-
vismus aus einer primitiven Entwicklungsstufe der
Menschheit stammen, in der jeden Augenblick der
Mensch von einem anderen oder von einem Tier
rücklings angefallen werden konnte. Andererseits
kann es sich während der Kindheit als Angstkom-
plex ins Unterbewußtsein eingegraben haben, da-
durch, daß fast jeder einmal durch ein plötzliches
Geräusch hinter sich oder durch einen Schlag auf
den Rücken erschreckt worden ist.

Wenn wir bei der Stellung eines Tisches, bei der
Anlage eines Wohnraumes, auf dies Bedürfnis Rück-
sicht nehmen, so ist es also nicht aus einem unkla-
ren, künstlerischen Formverlangen heraus, sondern
aus der genauen Kenntnis der menschlichen Psyche.

Wenn wir stark betonte Vertikalen innerhalb eines
Wohnraumes ausschalten, so ist es aus demselben
Grunde.

In der Eisenbahn folgt unser Auge ohne An-
strengung dem leichten Auf- und Abgehen des fernen
Horizontes oder des nahen Bahndammes. Es ist
aber sehr ermüdend, die vorbeihuschenden Tele-
grafenstangen anzusehen. Die Langsamkeit unse-
rer Sinnesorgane zwingt sie dazu, sich immer einen
Augenblick lang auf etwas, was ihnen in den Weg
kommt, zu konzentrieren, um es erfassen zu kön-
nen. Deswegen das Zucken des Auges von einer
Telegrafenstange zur anderen, das man bei jedem
beobachten kann, der versucht, vom fahrenden Zug
aus der Linie der Telegrafendrähte zu folgen. Dies
Zucken wirkt natürlich ermüdend auf die Augenmus-
keln, und diese Müdigkeit ihrerseits weckt in uns Un-
lustgefühle. Ein ganz analoger Vorgang spielt sich
ab. wenn wir in ein Zimmer mit vertikaler Wand-
aufteilung treten. Um einen Raum zu übersehen,
drehen wir den Kopf nach allen Seiten. Sind die
Wände einfarbig, dann gleitet unser Blick über sie
hinweg, ohne aufgehalten zu werden. Auch an einer
Horizontalen gleitet er ohne Unterbrechungen ent-
lang. Begegnet er jedoch einer Vertikalen, dann ist
das Auge zum ruckweisen Anhalten und Auf- und
Abblicken gezwungen. Die Ermüdung ist um so grö-
ßer, je kleiner das Zimmer ist. je kleiner also der
Abstand zwischen Auge und Wand ist.

Andere, ebenso leicht erklärbare Unlustgefühle
hängen von der Beleuchtungsweise eines Raumes
ab. Ein Durcheinander von stark erhellten und sehr
dunklen Flächen ermüdet unser Auge, weil die Pupil-
lenöffnung sich nicht zugleich auf hell und dunkel
einstellen kann. Beispiele für solche falsche Be-
leuchtungen sind die Zimmer mit hohen Fenstern
und dunklen dazwischenliegenden Mauerkörpern.

Solche Rücksichten auf psychische Veranlagun-
gen des Menschen gehören also zu der Arbeit des
Architekten, genau so wie die Rücksichten auf seine
rein physiologischen Bedürfnisse. Man kann übri-
gens auch hier den Trennungsstrich zwischen Geisti-
gem und Körperlichem nicht ziehen, denn wie wir
eben sahen, sind rein physiologische Ermüdungs-
erscheinungen unserer Sinne niederdrückend für
unseren Geist. Sogar die Angst vor Schmerz, wie
sie beim Bedürfnis nach Rückendeckung zum Vor-
schein kommt, ist nichts anderes als ein Teil unse-
res körperlichen Selbsterhaltungstriebes.

In der Kenntnis der Wohnbedürfnisse des Men-
schen beruht also zu einem gewissen Teil die Eigsn-
art des Architektenberufes neben dem des Inge-
nieurs. Wenn der Architekt aber darauf ausgeht,
für jedes Haus sein eigenes formales Gesicht zu
schaffen, so wird er vielleicht, trotzdem ich daran
zweifle, die Lebensbedürfnisse befriedigen können,
aber sogar ohne Ornamente, ohne Profile, wird
immer wieder das Haus theatralisch, aufdringlich
auf den Bewohner wirken. Auf den Beschauer wird
es heute vielleicht ungewohnt wirken und ihn mit
einem kleinen Schauer des Erstaunens überrieseln,
aber wie es dem Bewohner nach einigen Jahren
schon langweilig sein wird, immer denselben gesuch-
ten Effekt auf sich wirken lassen zu müssen, so wird
es dem Beschauer eines Tages, wenn der Reiz der
Neuheit verschwunden ist, als Mätzchen bewußt',
werden. Wenn die Architekten nicht mit der Idee,
eine künstlerische Laufbahn zu ergreifen, in ihren Be-
ruf hineintreten würden, dann wären wahrscheinlich
unsere neuen Straßen und Villenviertel besser als

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