Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 6.1931

DOI Artikel:
Lotz, Wilhelm: Ewige Formen – Neue Formen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.13708#0178

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
allein hin, im anderen Fall auf Druck und Zug hin
nachempfinden. Wenn wir aber dann uns etwa
das Bild des Abspanngerüstes ansehen, so stehen
wir damit einer fremden Welt gegenüber, deren
Form wir nicht mehr in ihrem Sinn in gleicher
Weise erfassen können. Schon das rein Kon-
struktive des Gerüstes ist durch die dünnen Kon-
struktionen so alles Körperlichen entkleidet, daß
unser organisch konstruktives Gefühl uns ver-
läßt. Wir geraten daher sehr leicht in Gefahr,
hier ein ästhetisches, lineares Gespinst zu sehen
und es wie räumliche Grafik zu bewerten. Der
Sinn dieser Formen ist uns gefühlsmäßig ver-
schlossen, selbst wenn wir es durch unsere
Schulung verstehen können. Wir stehen davor
wie vor einem Lebewesen aus der Tiefsee oder
einem Mikroorganismus. Wie beim Tiefseetier
ein ganz anderer Druck und eine andere Ausprä-
gung der Wahrnehmungsorgane, die ja oft mit
der Empfindlichkeit für elektrische Ströme ver-
glichen wird, Grundlagen für die Existenz und
Ausbildung dieser merkwürdigen Formen sind, so
müßte bei uns, wenn wir solche elektrischen
Apparaturen sehen, ein Gefühl — nochmals sei
betont: nicht nur ein Verständnis — für diese
Energien und ihre Auswirkungen vorhanden sein.
Die formale Existenz von Werkzeugen und Ge-
rätschaften wird bestimmt von Kräften und Ener-
gien, die im Material selbst liegen, wie etwa die
Schwerkraft. Die Träger elektrischer hochge-
spannter Energien und die Gebilde, die für Füh-
rungen und Isolierungen notwendig sind, werden
bestimmt von Energien, die über die Körper hin-
aus ausstrahlen. Gerade durch die Vorstellung
der Radiowellen und durch unsere andere An-
schauung auch von den Licht- und Schallwellen
wird die Atmosphäre belebt. In der Vorstellung
der nach uns folgenden Generationen wird nicht
mehr der Gegensatz von Masse und totem Raum
in der Art vorhanden sein, wie wir ihn noch
kennen.

Wahrscheinlich gab es in früheren Zeiten, eine
Untersuchung darüber würde hier zu weit füh-
ren, auch etwas ähnliches wie die Vorstellung
von einem Raum, der mit Energien erfüllt ist, und
von Formen, die Energien über ihre materielle
Existenz hinaus ausstrahlen. Es soll nicht gesagt
werden, daß unsere im Werden begriffene neue
Vorstellung eine Rückkehr bedeutet, aber Ähn-
lichkeiten lassen sich nicht von der Hand weisen.
Die merkwürdige atmosphärische Ausstrahlung
von Licht und Farben in den Bildern Grünewalds
oder der Ausspruch des chinesischen Weisen,
daß Schale nicht Wandung, sondern ihr Inhalt,
daß Rad nicht Nabe und Speiche, sondern das,
was dazwischen lebt, ist, hat mit der Vorstellung,

die wir heute von den elektrischen Wellen haben,
manches gemeinsam. Daß wir in der jüngsten
Malerei ähnlich gerichteten Gestaltungsproble-
men begegnen, ist ebenso bekannt wie die Tat-
sache, daß wir auch in der Architektur, in der
neuen Raumvorstellung ganz gleichgerichteten
Erscheinungen begegnen, worauf im Zusam-
menhang mit der atonalen Musik Walter Riezler
auf dem letzten Ästhetikerkongreß in Hamburg
hingewiesen hat. Auch in seinem Aufsatz „Die
atonale Welt" Heft 2/1929 in der „Form" kommt
er auf den Zusammenhang all dieser Dinge zu
sprechen.

So deutet sich hier doch etwas ganz Neues
an, nämlich das Eindringen einer ganz neuen
Vorstellungswelt in unser Form- und Raumgefühl.
Und von diesem Gesichtspunkt aus muß auch
davor gewarnt werden, wenn man mit unseren
Augen ein chinesisches Gefäß ansieht, diese
künstlerische Wahrnehmung als eine absolute zu
übernehmen und sie ohne weiteres mit der künst-
lerischen Wahrnehmung einer modernen Schale
zu vergleichen. Formwahrnehmung und Form-
erfassung können und dürfen nicht als absolut
gleich in allen Zeiten angesprochen werden. Der
griechische Tempel bedeutet für uns einen Höhe-
punkt der Gestaltung. Wir stehen heute bewun-
dernd vor diesen Schöpfungen, aber wer von uns
stellt sich dabei vor, daß diese Tempel sehr
stark farbig bemalt waren. Unsere Formvorstel-
lung des griechischen Tempels ist eng gebunden
an die Vorstellung des Marmors als Material. Wir
haben eindeutige Beweise dafür, daß einzelne
Kunstwerke, ja die Kunstwerke ganzer Epochen,
für eine bestimmte spätere Zeit tot waren, das
heißt, daß man sie nicht erleben konnte, während
in einer späteren Epoche sie für diese Menschen
dann zu neuem Leben erwacht sind. Wir sind
damit an dem allerschwierigsten Kapitel der
Kunstbetrachtung angelangt und damit auch an
einer Frage, die ein anderer Aufsatz in diesem
Heft behandeln wird. Aber die Erörterungen
bis hierher scheinen uns nicht unwesentlich zu
sein, denn heute ist auch auf diesem Gebiet der
Gestaltung und der Gestaltungswahrnehmung
ebenso alles in Fluß wie auf dem Gebiet der
naturwissenschaftlichen Erkenntnis. In einer
derartigen Zeit können solche Ausführungen
nicht den Anspruch auf Allgemeingültigkeit er-
heben, sie sind Anregung und ein Versuch, über
alte Erkenntnismaßstäbe und Bewertungen zu
neuen vorzudringen. Daß die Ausstellung „Ewige
Formen" Anlaß zu solchen Betrachtungen gibt,
zeigt, wie wertvoll sie ist, wenn man ihr Thema
nicht als Forderung sondern als Fragestellung
auffaßt.

166
 
Annotationen