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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 6.1931

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Riezler, Walter: "Ewig" – "Zeitlos"
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https://doi.org/10.11588/diglit.13708#0186

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eine Form so „ewig" wie die andere, — aller-
dings vorausgesetzt, daß sie überhaupt in die
Tiefe der Menschennatur hinabreicht, in jene
Tiefe, in der die menschlichen Urtriebe, der der
vitalen Strebungen und der der Gestaltung, ver-
wurzelt sind. Um es ganz einfach auszudrücken:
überall da, wo ein Urgefühl der Menschheit
lebendige Gestalt geworden ist, ist ein Kunst-
werk „ewig".

Was heißt dieses „ewig"? Sicher nicht, daß
es in jedem Augenblick von jedem für Kunst
Empfänglichen nicht nur verstandesmäßig „be-
griffen", sondern auch unmittelbar „nacherlebt"
werden kann. Dieser Idealzustand wird in Wirk-
lichkeit niemals erreicht werden. (Vielleicht sind
wir ihm heute näher als jemals früher!) Denn auch
der empfindlichste, aufgeschlossenste Mensch
ist noch irgendwie zeitgebunden, daher nach der
einen oder anderen Richtung blind. Ganze
Epochen sind für Rembrandt und Shakespeare
blind gewesen, und wir wissen von einem Genius
wie Goethe, daß die Gotik für ihn in seiner Ju-
gend alles, dann jahrzehntelang nichts, schließ-
lich wieder sehr viel bedeutete. Ganze Kulturen
sind manchmal in Erdenferne, manchmal in
Erdennähe. Welche Bahn sie durchlaufen, läßt
sich nicht berechnen, — aber darin beruht die
„Ewigkeit" alles Großen in der Welt, daß es
nicht für immer der Menschheit zu entschwin-
den braucht, daß es vielmehr immer wieder zu
neuem Leben erwachen kann.

Aber wohlgemerkt: damit, daß ein großes
Werk oder die Formenwelt einer großen Kultur
jederzeit wieder lebendig werden kann, ist nicht
gesagt, daß das Leben, in das jenes Werk, jene

Welt von neuem eingeht, das gleiche sei wie das,
aus dem es einmal entsprungen ist und zur Ge-
stalt entwickelt wurde. Nicht nur die Ergriffen-
heit, mit der wir heute wieder eine alte Neger-
maske betrachten, hat nichts, aber auch gar
nichts gemein mit der Ergriffenheit, aus der
heraus sie einst der Neger gestaltet hat: schon
der Bach, den Beethoven empfand und spielte,
war von dem ursprünglichen wesentlich verschie-
den, und wenige Jahrzehnte, nachdem die Sym-
phonien Beethovens entstanden waren, hat
Schumann in ihnen vieles gesehen, was Beet-
hoven nicht nur fremd, sondern sogar unver-
ständlich gewesen wäre. Und wenn wir uns
heute noch so ernst um eine „objektive" histo-
rische Erkenntnis und Wiederbelebung alter gro-
ßer Kunstwerke bemühen, so verschließt uns
allein schon die Tatsache, daß wir objektiv sind,
das heißt von unserem naiven Empfinden ab-
sehen wollen, den Zugang zu dem ursprünglichen
Erlebnis. Die Art, wie wir uns einem Kunstwerk
gegenüber verhalten, und die eigentliche innere
Wesenheit des Werks sind zwei Dinge — aber
damit, daß wir diesen Gegensatz anerkennen,
geben wir zu, daß ein Kunstwerk nicht nur in dem
jeweiligen Betrachter lebt. Es hat seine eigent-
liche Existenz in sich selbst, — und wenn wir
das Problem ganz ernst nehmen wollen, müssen
wir uns klar sein, daß diese eigentliche Existenz
„an sich" vielleicht auch nicht dem Schöpfer
des Kunstwerks ganz gegenwärtig, ganz bewußt
gewesen ist. Vielleicht ist auch er, als er das
Werk schuf, zu „zeitgebunden" gewesen, als
daß er das, was an „Ewigem" in seinem Werke
lebt, ganz klar hätte erkennen können.

Vitrine aus der Ausstellung „Ewige Formen", Neue Sammlung, München. Keramik der Hallstattzeit, ägyptischer,
chinesischer, peruanischer Herkunft und römisches Glas

Vitrine de l'Exposition ,,Ewige Formen", collection nouvelle, Munich. Ceramique de l'epoque de Hallstatt, d'origine egyptienne, chinoise,
peruvienne et verre romains

Cabinet in the Exhibition „Ewige Formen", new collection. Munich. Ceramics of Egyptian, Chinese and Peruvian origin, together with
Roman glass

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