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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 7.1927

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Heft 8 (August 1927)
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Litt, Theodor: Vom Bildungsganten und der Kunsterziehung
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https://doi.org/10.11588/diglit.23855#0211

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Llngliederung recht oft ciuf Kosten der echken Kunsk
erfolgt. Dafür ein Beispiel: unsere Zeit schätzt als
Forin üer „organischen" Zusammenfasiung die „kul-
turlrundliche" Bekrachtung. Der Schliler soll es ler-
„en, irgendein Kunstwerlr in das Ganze der Epoche,
in üen Zusammenhang des Zeitgeistes hineinzustellen,
aus dem es entskanden ist. Und ich weitz nicht, ob
es nichk nuch Kunstlehrrr gibk, die ihren eigenen Un-
terricht mit einer solchen „lrulkurkundlichen" tzm-
prägnierung hoffähig machen möchten. tzch halte das
fkir gefährlich. Der Kzinstlehrer sollte lieber sagen:
daS, was wir erskreben, Ist etwas ganz anderes als
die „kulturkundliche" Behandlung: aber es ist zu-
gleich ekwas pädagogisch Werkvolleres. Es isk ein
grotzer Unkerschied, ob man an ein Kunskwerlr heran-
tritk, um sich die in ihm beschlossenen ästhekischen
Werte zugänglich zu machen, oder ob man es betrach-
ket, unr aus Ihm den „Geist der Gotik", die „Seele"
des Äenaissance-Menschen zu erkunden. Das Leht-
genannke ist eine kulkurhistorische Aufgabe, die dar-
auf hinausläufk. das Kunstwerk hineinzustellen in den
Zusammenhang des historischen Prozesies — eine
Aufgabe, dersn Sinn und deren Werk nicht bestriklen
werden soll, von der ich aber bezweifeln möchte, ob
sie innerhalb der Leistungsmöglichkeiten auch der
Überklassen unserer höheren Schulen liegt. Anders
jst es, wenn man sich dem Kunstwerk gegenüberskellt
nicht als einem Ausdrnck des Zeitgeistes, sondern
als einem in s i ch geschlossenen und z e i t-
losen Eigenwert. Diese Aufgabe bletbt im
Anhmen der jugendlichen Auffassungsmöglichkeiken.
Möchken doch die Kunsterzieher den Mut haben zu
sich selber, zu der Eigenart ihrer spezitischen Erzie-
heraufgabe, und möchten sie es doch ablehnen, ihr Tun
mik allzuviel Wissenschaft zu belasten. Jch habe den
Eindrnck. datz nianche der neuerdings erlassenen oder
vorgeschlagenen Prkifiiiigsbestimmungen es an dieser
Begrenzung fehlen lassen. Bei ihrer Lektüre möchte
man meinen, der Kunsterzieher miisse sein: 1. natür-
lich ein Künstler, 2. ein Mensch mit erzieherischen
Gaben, 3. eine „gebildeke" Persönlichkeit und 4.
noch eine w i s s e n s ch a ft l i ch sekwa in Kulkur-
geschichte, Kulkurphilosovhie usw.) unterrichkete Per-
sönlichkeit. Aber, meine Damen und Herren, die
inenschliche Kraft ist begrenzk. Menn wir einen
Menschen vor uns haben, der in und mit der Kunst
lebt. der zugleich ein Herz fkir die 3ugend hat und
auf sie zu wirken verstehk, so ist das schon eine so
glückliche Bereinigung, datz man nichk noch soundso
viel wisienschaftliche Forderungen hlnzufügen soll.
kLebhafker Beisall.) Gerade well gegenwärkig unsere'
Bildungsgänge imnier mehr vollgestopst werden mit
Wissenschaft, darum sollken Sie, die Kunskerzieher, er-
klären: Wir können nicht alles zugleich sein! (Leb-
hafte Bravorufe und Beifallskundgebungen.) Gerade
alS Berkreker der Wisienschaft möchte Ich in tzhnen
Aundesgenossen werben gegenüber einer Hypertro-
phie an wissLiischaftlichen Forderungen, die ich ge-
rade im Znteresse der deutschen-Blldun^ sür ver-
derblich halke. Diese Erwägung möge Hneii zeigen,
datz üaS Problem der sogen. „harniönischen" Bil-
dung sehr tief in die praklischen Aufgaben der Kunst-
erziehung hineinreicht. 3st sie allzusehr auf „orga-
nische" Eingliederung bedacht, so kann es ihr ge-
schehen, datz sie sich unvermerkt in Kunstwissen -

schaft verwandelt und damit ihre eigenste Bestim-
mung vergißk.

Damik habe ich den Gegensatz zwischen dem Le-
bensprinzip der Kunst und der Skruktur unseres
sonstigen Lebens in aller Deutlichkeit ausgesprochen.
ändessen möchte ich üiese Bekrachtung vor einem
Mitzverständnis geschühk sehen, das sich an die Be-
tonung dieses Gegensatzes leicht anschlietzen könnke.

bekannk ist, sind wir gerade durch eine
kunstlerische Bewegung hindurchgegangen, deren
Prinzip man bisweilen in folgendem Sinne ver-
stanüen hat: Kunst ist die Aefreiung des 3ch von
der Last objektiver Sachlichkeiten. Kunst hat ihre
befreiende und erlösende Wirkung gerade darin, datz
ssi burch sie das 3ch sich selbst auszudrücken

die Mogllchkeit erhält. Damik wurde der Gegensatz
zwischen Kunsk und Sachkultur zusammenfallen mit
demjenigen zwischen dem 3ch und den sachlichen
Kulturprinzipien. Gerade die neuerliche Wertschätzung
der primitiven Kunst ruht vielfach auf der Ileber-
zeugung: hier spricht einmal der lebendige Mensch
lich selbst, sein innerstes Erleben in voller An-
befangenheit aus. Nun müsien wir zwar zugeben,
datz diese Reaktion, wie sie etwa Im „Eppressionis-
mus" zum Ausdruck kam, ihre tiefe kulkurpsycho-
logische Berechtigung hatle. Ls war in der Tat so,
datz wir unker üer Last einer Kulkur seufzten, die
üem Menschen schließlich das Nechk aus sich selbst
ganz und gär zu versagen schien, und da hietz es
nakürlich: Kunst mutz vor allen Dingen dem Men-
schen üazu verhelfen, daß er wieder einmal sich selbsk
gehöre, sich selbst gestalterisch auslebe. Trotzdem mutz
ich auslprechen, datz ich diese Entgegenskellung von
3ch und Sachlichkeit der Knlkurprinzipien für falsch
halke. 3ch würde nicht in tzhcem Kreise über dieses
zunächst die Kunst angehende Problem zu reden wa-
gen, wenn ich nicht die Erfahrung gemacht hätte,
datz das gleiche Problem sich anch autzerhalb ihrer,
ja in fast allen Bezirken des Geistes geltend macht.
Ueberall üer Gedanke: wir müssen dem 3ch Atem-
raum schaffen gegenüber der Last der objektiven
Mächke: und nakurgemätz erscheink die Kunst beson-
ders geelgnek, diese Befreinng des 3ch zum Ausdruck
zu bringen. Und darauS ergibt sich die weikere Mei-
nung, die Kunsterziehung mllsse von der Boräus-
setzung ausgehen, üatz alles Enkscheidende der künst-
lerischen Enkwickluna von vornherein Im Kinde
drinstecke. Wir brauchen nur „wachsen zu las-
sen", wir müssen uns nur hüten vor jedem Eingrisf
in dieses Elgenwachskum der klndlichen Gestaltungs-
triebe. Aber es will mir scheinen, daß diese Auf-
sassung irrt. 3st es wirklich so, datz in der künst-
lerischen Schöpsung der Mensch, das 3ch sich
selbst ausdrückk? Wir sind heukzutage in Gefahr,
als einziges künstlerisches Wertkriterium nur noch
anzusehen die Ausdrucksechkheit. Aber wenn
die neue Kunstpädagogik ihr Wollen so gerne in dem
Begriff der „bildhaften Gestaltung" zusammenfatzk,
so wird man fragen dürfen: Liegt denn im Begriff
der „Gestalkung" nicht mehr als eine blotze Selbst-
darstellung des 3ch, nämlich eine W e r k forderung,
ein in dem Gebilde als solchem sich erfüllendes
Gebot? Man redet so oft von der „Sprache der
Form", man sagt, datz das Kind dahin geführt wer-
den müsse, die Sprache der Form zu verstehen oder
auch anzuwenden. Aber wenn es wirklich eine solche
 
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