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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,1.1903-1904

DOI issue:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1903)
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Batka, Richard: Wunderhornklänge
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https://doi.org/10.11588/diglit.7715#0030

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Jst in der letzten Zeit und namentlich von den Anhängern der
„Musizierüeder" eines Max Reger die zunehmende Verlünstlichung des
Musikparts als der nächste „Fortschritt" der Lyrik bezeichnet worden,
so zeigt Theodor Streicher, daß die gesunde Entwickelung des Liedes
sich in der Richtung bewegt, die zuletzt Hugo Wolf so kraftvoll ein-
geschlagen hat: aus dem Wege der mnsikalischen Verlebendigung und
Verstärkung des Dichterwortes. Auch das hat Streicher mit Wolf
gemein, daß er durch seine Töne das Verständnis der Dichtung be-
sordern will, daß er nicht nur deren Zeilen, sondern auch was zwischen
den Zeilen liegt, zu erläutern strebt. Und was seinem Versahren den
höchsten Wert verleiht: diese Ausdeutung ist nicht etwa bloß das Er-
gebnis einer geistreichen Reslexion und feinen Anempsindung, sondern
eines wirklich intuitiven Ersassens und hellseherischen Durchsühlens
der dichterischen Gebilde. Ueber diese Verwandtschast im Grundsätz-
lichen und Allgemeinen geht die Uebereinstimmung zwischen Wols und
Streicher allerdings nicht hinans. Beide sind Musiker von Gottes
und Dichters Gnaden, beide schöpfen aus dem Werk und Wort des
Dichters ihre tiefste musikalische Kraft. Aber sonst weist jeder von
ihnen ein durchaus „eigenes Gesicht". Jn seiner männlichen Herbig-
keit, in seiner Neigung zum Volkstümlichen, in einer gewissen Ob-
jektivität der Auffassung möchte man Streicher eher mit Brahms ver-
gleichen, wenn auch ihre ganze Kompositionstechnik so verschieden ist.
Bei Brahms das Streben nach musikalischem Ausbau und kontra-
punktistischer Stimmenführung. Bei Streicher ein inniges Arm-in-Arm
mit dem Gedicht, ohne viele Sorge um architektonische Geschlossenheit,
sowie der Verzicht aus viele formalistische Kunstmittel zugunsten der
Schärfe und Bildlichkeit des Ausdrucks. Mit der Einschachtelung in
eine der gewohnten Rubriken und Schulen ist diesem neuen Manne
also nicht beizukommen; wir müssen uns wohl oder übel schon dazu
verstehen, ein besonderes Fach eigens sür ihn in Zukunst aufzuschließen.

Wenn bei Hugo Wols das lyrische Gedicht gleichsam zur Szene
dramatisiert wird, so ist bei Streicher ein epischer Grundzug, eine
gewisse Gegenständlichkeit des Stils nicht zu verkennen. Nach sub-
jektiver Jch-Lyrik sucht man bei ihm vergebens. Das Epische, das
Balladenhafte liegt ihm am nächsten, und seit Loewe und Plüddemann
hat niemand mehr eine so echte Volksballade geschrieben wie sein „Es
war ein Markgraf über dem Rhein". Mit dem kleinsten Krastmaß
größte Wirkungen zu erzielen, darin kommt unserm Tondichter über-
haupt so leicht kein zweitcr gleich. Er sucht seine Vorgänger merk-
würdigerweise nicht durch einen stärkeren Auswand zu überbieten, son-
dern gewinnt den einsachsten neue, überraschende Wirkungen ab. Die
Stimmung, die er auslöst, hat etwas unwiderstehlich Bannendes wie
bei jedem echten Genie. „Mit Lust tät ich ausreiten", kennen wir z. B.
schon von Mendelssohn, aber wo dieser aufhört, setzt Streicher erst eigent-
lich ein. Der erzählende Charakter des Gedichts, das Mendelssohn bloß
als „Jagdlied" behandelte, der schließliche Sieg des Jägers über die
spröde Schöne in verstohlener Liebesnacht wird osfenbar in einem
Notturno, das man in seiner Schlichtheit und Märchenstimmung nur
durch einen Vergleich mit Eichendorff kennzeichnen kann. Man sollte
kaum glauben, welcher Zauber in einem alterierten Quartsextakk'ord



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