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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,1.1903-1904

DOI Heft:
Heft 7 (1. Januarheft 1904)
DOI Artikel:
Anthes, Otto: Nach dem zweiten Kunsterziehungstage
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https://doi.org/10.11588/diglit.7715#0523

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stsack äern Lvaeiten Runsterriekungstage.

„Gebe der Hinrmel, daß ich nie ein Klassiker werde nnd in die
Schulen konrme!" — mit diesem Stoßseufzer drückte ein zeitgenössischer
Poet das tiese Grauen aus, das den künstlerisch empfindenden Menschen
unserer Tage befällt, wenn er an den Literaturbetrieb der Schule erinnert
wird. Jch weiß sehr wohl, daß viele Lehrer das Bestehen einer solchen
Abneigung in der Allgemeinheit anzweifeln möchten. Aber ich meine,
wer fich noch bis jetzt gegen diese schmerzliche Erkenntnis gewehrt
hat, muß seinen Widerstand nach der Weimarer Tagung aufgeben.
Wer auch nur als Nichtlehrer dort das Wort ergrisfen hat, hat Zeugnis
abgelegt für die Erfolglosigkeit unserer bisherigen Bemühungen um
das dichterische Kunstwerk in der Schule. Alle haben sie uns und
unsere Arbeit abgelehnt, im besten Fall mit mitleidigem Achselzucken,
im schlimmeren mit leichtem Spott, im schlimmsten mit giftigem Hohn.
Und wer der behördlichen Bestätigung bedarf, um derartige Dinge
als vorhanden anzuerkennen, der lese die Kritik nach, die der preu-
ßische Geheime Oberregierungsrat Waetzoldt in seiner einleitenden An-
sprache an unserem Literaturunterricht geübt hat. Das müssen wir
Lehrer demnach als eine Tatsache hinnehmen: eine Erziehung zur
Kunst ist unsere Arbeit nach dem Urteil aller, die es wissen müssen,
nicht gewesen. Anderseits aber dürfen wir uns auf das energischste
gegen den Ton verwahren, in dem von verschiedenen Seiten über
unsere Tütigkeit gesprochen wurde. Wir sind auch dem Kunstwerk
gegenüber nicht die Jdioten, als die uns Heinrich Hart hinstellte.
Was zum Beispiel seine Gedanken über die Auswahl des Kunst-
werks für die Schule angeht, so ist die Jdee einer Anordnung alles
Stoffes nach Kulturstufen seit Jahrzehnten ein Gemeingut der püd-
agogischen Welt; und wenn von diesen Jdeen noch so wenig in die
Praxis eingedrungen ist, so ist die Lehrerschast zum geringsten Teile
daran schuld. Schürfer aber als die „Originalität" dieser Gedanken
dürfen wir die hohnvolle Verachtung zurückweisen, mit der uns jeder
Satz von Hart bedachte. Wir haben's salsch gemacht; zugegeben. Aber
die Unsumme von Arbeit, die mit dem ehrlichsten Willen aufgewendet
worden ist, verdient Respekt, auch wenn sie vergeblich war. Jch gehc
in dem Zugestündnis unserer Verfehlungen noch viel weiter, als alle
die Herren in Weimar. Es gibt noch Lehrer — ich kenne selbst solche —,
die eine Dichtung noch immer mißbrauchen als Turngerät für gram-
matikalische, orthographische und ähnliche Uebungen. Aber diese we-
nigen werden in der Lehrerschaft selbst als abenteuerliche Ueberreste
verklungener Zeiten empfunden. Die große Mehrzahl der Lehrer da-
gegen ist heutzutage mit Eifer und Erfolg bemüht, ihren Unterricht
in der Literatur anregend, oder wie man lieber sagt, „interessant" zu
gestalten. Nur das ist die Frage, ob diese Anregungen in wirklich
künstlerischer Richtung verlaufen. Und diese Frage allerdings muß
man verneinen, nach Weimar noch entschiedener als vorher.

Wer aber will uns einen Vorwurf daraus machen? Wer hat
uns je gesagt, wie wir's machen sollten? Wer hat's uns in Weimar
gesagt? Jn der ganzen Auseinandersetzung über die „Behandlung
des Kunstwerks in der Schule" ist mit Ausnahme von zwei fast spur-

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Runstrvart
 
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