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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,1.1903-1904

DOI Heft:
Heft 4 (2. Novemberheft 1903)
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Avenarius, Ferdinand: Literarischer Ratgeber des Kunstwarts für 1904, [10]: Religion
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https://doi.org/10.11588/diglit.7715#0353

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ReUgion

Vorbernerkung. Nicht ohne Selbstüberwindung haben rvir uns ent-
schlossen, dieses Mal zwei verschiedene Bearbeitungen dieser Uebersicht vorzu-
legen. Die bisher einzigeAufstellung entsprach ungefähr den Ueberzeugungen, welche
die von uns sehr hoch geschätzte Zeitschrift „Die christliche Welt"' vertritt und
damit den Ansichten derjenigen ständigen Mitarbeiter am Kunstwart, die in
diesen Dingen überhaupt ein Urteil zu haben glauben. Ganz anders als sie
denken aber natürlich die Vertreter der sogenannten „positiven" Richtung, und
sie fühlten sich deshalb durch Autzerachtlassung ihrer Ueberzeugungen beschwert.
Selbstverständlich, es bildet ein ganz anderes Gedanken-Ganzes, wenn ich auf
eine Ofsenbarung als unerschütterlichen Grundstein baue, als wenn ich mit dem
Grundsatze freiester Kritik eine Wissenschaft zu errichlen strebe. Darf sich nun
der Kunstwart beikommen lassen, sich als eine Autorität in religiösen Dingen
aufzuspielen? Wir meinen: er hat auf diesem persönlichsten aller Gebiete sür
eine jede Richtung ihre Voraussetzungen einfach hinzunehmen, er hat nur
innerhalb dieser Grenzen zu untersuchen, in wiefern ihr Niederschlag als Lite-
ratur der höchsten ästhetischen Anforderung genügt: echter und klarer Ausdruck
dessen zu sein, was sich in ihm auszudrücken vorgibt. Wir gehen deshalb sogar mit
der Absicht um, auch den Katholiken unter den Lesern eine Aufstellung zu unter-
breiten, die ihren Voraussetzuugen entspricht. Für dieses Jahr folgt der
durchgesehenen und durch einen Nachtrag ergänzten bisherigen Aufstellung über
Religion eine kurze Aufstellung vom „positiven" Standpunkte aus-

1.°

Es gibt mehrere Umstände, welche die Bedeutung der religiösen Schrift-
stellerei sür die ästhetische Kultur in unserer Zeit sehr wesentlich beeinträchtigen.

Der eine tritt überall ein, wo man zu nahe an ciner Rednertribüne
wohnt — es braucht nicht immer eine Kanzel zu sein. Die Tribüne wirkt gut
sür das Aufkommen grotzer und einfacher Anschauungssormen. Aber eben diese
Wirkung führt bei schwächeren oder trägeren Naturen zur Phrase, zur Er-
setzung der grotzen Anschauung durch den grotzen Ton, zur künstlichen Auf-
bauschung von Trivialitäten. Sie ist die „Berufskrankheit" aller Redner. Sind
nun gar die Wirklichkeiten, über die der Redner spricht, geistiger, schwer kon-
trollierbarer Art, so ist es selbst für kräftigere Naturen schwer, sich ganz frei
zu halten. Die Phrase wuchert denn auch erschreckend üppig durch die ganze
theologische Literatur, zumal allerdings die erbauliche; besonders seit die Sicher-
heit der älteren christlichen Mythologie zerbrochen ist. Solche Steine und solchen
Bau schasst man nicht in der Eile neu. Da mutz das Papiermachö belfen.

Ein anderer Umstand ist der, datz die Theologen so leicht den schrecklich
zweideutigen Worten vom Anstotzgeben erliegen. Besonders in so schweren
Wandlungen des geistigen Milieus, wie denen von heute. Es ist oberslächlich,
diesen Umstand damit in Verbindung zu bringen, datz der Theologe darauf
angewiesen sei, von seiner geistigen Arbeit zugleich zu leben. Denn das ist
die allgemeine Situation aller, die geistige Arbeit leisten — außer vielleicht,
wenn sie unverheiratete Rentiers sind —, und unseren „freiesten" Schriststellern
kann man am deutlichsten sozusagen mit den Fingerspitzen nachfühlen, wie und
was sie schreiben müssen oder dürfen. Jnnere Freiheit ist immer eine persönliche
Leistung, und ihre Chancen sind andere, als die uon den Flachköpfen gewitterten.
Bei den Theologen ist das ihrem Beruf besonders eignende Hemmnis dies, datz
das Pslicht- und Verantwortungsbewußtsein bei ihnen durch eine lange Mitz-
entwicklung verbildet und eng und kleinlich geworden ist. Jndem sie, soviel
sie Männer eigener Gedanken sind — und nur die sind der Rede wert —
Wahrheit und Vorsicht zu vereinigen suchen, haben sie einen wunderiich gleitenden
verklausulierten vieldeutigen Stil ausgebildet, dessen Jdeal ist, datz der Ein-
geweihte ernsteste, letzte, freieste Gedanken in denselben Worten lese, in denen
der Arglose gute biedere Kirchenlehre mit etwas moderner Auffärbung finden
mag. Es liegt eine gewisse Meisterschaft in diesem Stil, er spiegelt ein langes
Wandern in vielen Gedanken wieder, eine seltsame Tiefe unter freundlicher
Obersläche, selten aber: durchschlagenden Mut und ungekünstelte Ehrlichkeit.
Die Wahrheit, datz die menschlichen Dinge sehr verwickelt sind, gibt er im
Grunde gut, und so, daß die rechtwinklig zugeschnittenen Köpfe der gar zu slach

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Aunstwart
 
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