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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,1.1903-1904

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Heft 2 (2. Oktoberheft 1903)
DOI Artikel:
Grunsky, Karl: Alte Klaviermusik für die Gegenwart, [1]
DOI Artikel:
S., E.: Phantasieen über die Phantasie
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https://doi.org/10.11588/diglit.7715#0098

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Das Vertrautsein mit vielen Werken Eines Tonsetzers bringt den
Vorteil mit sich, daß sich uns zuerst die Eigenart jedes Meisters er-
schließt. Erst in zweiter Linie kommt die Entwickelung der einzelnen
Kunstformen daran. Zuletzt werden wir uns dann Rechenschaft geben
können, worin die Hauptstärke des Komponisten liege, was sein An-
teil an der Musikgeschichte sei, welche bleibenden Werte er sür unser
heutiges Empfinden geschafsen habe. Rarl Grunsky.

(Ein zweiter Aufsatz folgt.)

Vkanlasieen über ctie Vkantasie.

Gibt es in den höheren Stufen des Tierreiches etwas, das dem
freien Walten der schöpferischen Phantasie entspricht oder es auch
nur ahnen ließe? Wann entfaltet im Menschen selbst der Schmetter-
ling der Einbildungskraft seine Schwingen aus der Verpuppung in
niederen Jnstinkten und Trieben? Diese Fragen sind uralt, und wie
die meisten ihrer Art — harren sie noch der Lösung. Vielleicht sind
sie Kolumbuseier der Forschung — aber bis jetzt sehlt uns für sie
der Kolumbus.

Die großen Schwierigkeiten der einschlägigen Untersuchungen sind
selbst für den Laien unverkennbar. Wir besitzen keinen unmittelbaren
Einblick in das Seelenleben der Tiere, und es ist, als verlören die
meisten unter uns in einem gewissen Alter auch den Schlüssel zu den
Erinnerungen ihrer eigenen Kindheit. Man ist auf Beobachtungen
und aus Schlußfolgerungen angewiesen, welche durch die Wurzelaus-
läufer der Jnstinkte und Triebe die höchsten Wipfel unsres Gefühls-
lebens mit dem Mutterboden niederer Entwickelungsstufen verbinden.
Gerade dieser irdischen Abstammung scheinen aber diese Wipfel ihre
unendliche Krast zu verdanken, wie in der alten immer wieder genannten
Sage der Riese Antäus die Erde berühren mußte, um den Himmel
stürmen zu können.

Der französische Psychologe Th. Ribot widmet in seinem Werke
„Die Schöpferkraft der Phantasie"* einige Abschnitte der Phantasie bei
Kindern und bei Tieren. Für Ribot bedeutet Phantasie dasselbe wie
Bewegung der Vorstellungen, das Zusammentreten der Vorstellungen
zu neuen Kombinationen — die höchste Reaktionsweise des Organis-
mus aus die Eindrücke der Außenwelt, die er zunächst mit einförmigen,
immer gleichbleibenden Reflexbewegungen und in aufstrebender Ent-
wickelungssolge mit der Sprachbewegung, mit der äußeren bewegen-
den Handlung und schließlich mit der „geistigen individuellen Hand-
lung eines eigenartigen, phantasievoll bewegten Vorstellungslauses"
beantwortet. Die Phantasie ist nach Ribot „die geistige
Handlung" und als solche die tiesste, ureigenste Ausgeburt der
Jndividualität; nicht in dem hell und einsörmig beleuchteten Ober-
stübchen der Vernunftsgründe, Gesinnungen, Erwägungen, das bei
uns allen in annähernd gleicher Weise möbliert ist, sondern in dem
dumps dahindämmernden und nur zuweilen durch jäh verschlungene
Zufallsblitze grell und sonderbar in stets überraschenden Umrissen auf-

* Deutsch erschienen bei Emil Strauß in Bonn.

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